Buch-Cover



Wider das Vergessen

Rechlin – eine Region im Landkreis Müritz

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Vorwort

Gern komme ich dem Wunsch des „Kreisverbandes Bund der Antifaschisten Waren-Röbel e.V.“ nach, zu seiner Veröffentlichung „Gegen das Vergessen!“ einige Gedanken voranzustellen. Es ist einmal die höchst anerkennenswerte Leistung der engagierten, heimathistorisch versierten Autoren hervorzuheben, die in einer methodisch fundierten und gut lesbaren Darstellung ein wichtiges Kapitel mecklenburgischer Landesgeschichte vorgelegt haben.
Dabei ist es ihnen gelungen, regionales Geschehen in größere historische Zusammenhänge einzuordnen und sich nicht in Details zu verlieren. Hervorzuheben ist gleichfalls die schon sprichwörtlich gewordene Beharrlichkeit des „Waren-Röbelner Bundes der Antifaschisten“, mit der er – nicht zum ersten Mal! – seine Vorhaben zur Erhellung der Heimatgeschichte in der Zeit des Dritten Reiches verfolgt und durchzusetzen verstanden hat.
Zum anderen ist es für die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten ein Gewinn, daß die „Warener“ auch die große Zahl von Häftlingen – Frauen und Männer – aus dem größten nazideutschen Frauen-KZ in ihre Untersuchungen einbezogen und somit beigetragen haben, die noch ungeschriebene Geschichte der zahlreichen Ravensbrücker Nebenlager um ein wesentliches Element zu bereichern.
In diesem Zusammenhang betrachtet, spiegelt sich in der vorliegenden Publikation auch die mit dem 50. Jahrestag der Befreiung des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück begonnene und bewährte Kooperation wieder, die beispielsweise in der gemeinsamen Konzeption zur Gestaltung der KZ-Gedenkstätte Retzow-Rechlin eine Fortsetzung. findet. Schließlich ist es nicht zuletzt ein Verdienst des Waren-Röbelner Bundes der Antifaschisten, daß seine Initiativen beigetragen haben, den Gedanken einer künftig gemeinsamen Förderung der Gedenkstättenarbeit in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg unter der Parole „Gegen das Vergessen“ weiterzutreiben.

Dr. habil. Sigrid Jacobeit
Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/
Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten

I. Gedanken zur Geschichte der Müritz-Region und des Dorfes Rechlin

Frieden herrscht über unser Land. Entbehrungsreiche 51 Jahre, ausgefüllt mit harter Arbeit aber auch glücklichen Zeiten, liegen hinter vielen Menschen unserer Region. Seit dem 8. Mai 1945.

Wer denkt da noch an vergangene Zeiten. Man will davon nichts mehr wissen. Wir leben doch in bestem Frieden.
Der lange harte Winter ist vorbei. Wir atmeten auf. Der diesjährige Mai zeigt sich von seinen besten Seiten. Die Wälder, Wiesen und Gärten ergrünten im Nu. Der Bauer bestellt seine Felder, der Bauarbeiter geht mit neuem Mut an seine harte, aber schöne Arbeit. Die Vögel zwitschern ihr fröhliches Lied und der Fisch tummelt sich in seinem Wasserrevier. Die ersten Touristen sind wieder da. Sie erleben pur unsere herrliche Natur, die in neuem Glanz erscheinenden Wohn- und Gewerbestätten in den Städten und Dörfern der Müritz-Region Die Läden sind gefüllt, die Geldkasse stimmt, der Korb ist voll. Unruhevoll streben wir in die Ferne, um die Welt kennen zu lernen.

Und doch dürfen wir unsere Geschichte nicht vergessen. Sie ist der Quell unseres heutigen und zukünftigen Lebens. Sicher hat jeder seine eigenen Erfahrungen mit der Politik und den Politikern vergangener und heutiger Zeiten.
Jede Gesellschaft hinterließ ihre Spuren, mit denen die Menschen fertig werden mußten und noch heute daran zu knabbern haben. Der Müritzkreis wurde seit Jahrhunderten von der Landwirtschaft geprägt. Dieses Jahrhundert durchbrach den gewohnten Lebensrhythmus. In großem Stil industrialisierte der Nationalsozialismus das Land Mecklenburg und das Gebiet der Mecklenburger Seenplatte.

Damals nahm es niemand für. ernst, was sie taten. Alle, ob Mann, Frau, Kind und Greis waren begeistert. Es ging vorwärts. Die Männer erhielten Arbeit. Der Familie ging es gut. Fabriken, Wohnungen und Straßen entstanden. Alles war moderner und großzügiger.
Ja, selbst der „Führer“ ließ sich in Waren sehen - zum Manöver-, in Begleitung des italienischen Duce und des Gauleiters von Mecklenburg. Letzterer dirigierte die Jagd in Cramon auf 500 Hektar Staatsjagdfläche. Oft gesehener Gast war der Reichsluftmarschall und Reichsjägermeister Hermann Göring. Man sah ihn in Waren und Rechlin.
In der Specker Horst schoß er Muffeltiere und in Basedow erlegte er weiße Hirsche.

Auch Hanna Reitsch – Hitlers beliebte Pilotin – fehlte nicht in diesem Reigen. Kurz vor Ultimo erschien noch Heinrich Himmler, der Reichsführer der SS in Federow. Hier stimmte er die Kampfhandlungen seiner Truppen mit dem Oberbefehlshaber Heinrich ab. Anschließend brannten in dem Dorf Wohnhäuser, Wirtschaftsgebäude und das Pastorenhaüs ab.
Die meisten Leute verdrängten in ihrem. Innersten, daß

  1. Ärzte auf dem Gut Alt Rehse für ein in der Menschheitsgeschichte beispielloses Verbrechen seit 1935 vorbereitet wurden;
  2. die Erprobungsstelle Rechlin der deutschen Luftwaffe die Kriegsmaschinerie erprobte und hunderte Piloten für den Überfall auf die europäischen Völker vorbereitete. Mehr als 300 von ihnen ließen ihr Leben im Übungsflug, - auch über dem Müritzkreis;
  3. in Malchow ein unterirdischer Rüstungsbetrieb Sprengstoff und Zünder für Bomben, Granaten, Torpedos und Munition aller Art herstellte;
  4. in der Mecklenburgischen Metallwarenfabrik, „Memefa“ genannt – im Warener Eldenholz-, Halb- und Fertigteile für etwa 74.000 Kriegsflugzeuge angefertigt wurden. Es war der führende Rüstungsbetrieb dieser Art in Mecklenburg.
  5. in Warenshof, – einem Warener Ortsteil, – in der dortigen „Marine-Nachrichtenschule“ tausende Matrosen ausgebildet wurden. Zugleich erprobte man hier „Wunderwaffen“ und es diente als Versorgungslager für die Kriegsmarine.

Niemand wollte nach dem furchtbaren Ende am 8. Mai 1945 an der Schuld teilhaben,die der deutsche Nationalsozialismus auf sich geladen hatte. Niemand wollte gewußt haben, daß sich im Landkreis Waren Nebenlager des Frauen-KZ Ravensbrück in Malchow und Retzow/Rechlin befanden. Nur wenige übten Solidarität mit den Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus Ost- und westeuropäischen Ländern, die in den Rüstungsbetrieben und auf den Gütern des Kreises arbeiten mußten. Mindestens 4 600 Landsleute aus der Müritzregion hat der Nationalsozialismus auf seinem Gewissen.

  • 2 500 Soldaten fielen auf den Schlachtfeldern,
  • 650 Männer, Frauen und Kinder verübten 1945 Selbstmord,
  • 1 500 Menschen starben in den Nachkriegsmonaten an Typhus und an Ruhr, – 19 Frauen, Männer und Kinder wurden von den Nazis in Konzentrationslagern und Gefängnissen wegen ihrer Weltanschauung oder weil sie Juden waren, ermordet.

In der Erde des Müritzkreises ruhen, nach unvollständigen Angaben

  • 731 Häftlinge aus den KZ-Nebenlagern Malchow und Retzow,
  • 577 Soldaten der Roten Armee und
  • 17 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus Polen und der ehemaligen Sowjetunion.

Es gibt Kräfte im heutigen Deutschland, die das alles verharmlosen, verfälschen, ja verleugnen wollen. Sie versuchen, Geschichte in ihrem Interesse zu schreiben.

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Vor etwa 10.000 Jahren lassen sich nomadisierende Jäger und Fischer im Gebiet der Müritz nieder.
Das war unmittelbar nach der letzten Eiszeit.
Bereits seit der Stein- und Bronzezeit gibt es Zeugnisse über die Besiedlung des Ostufers der Müritz und der Region Rechlin. Davon zeugen Funde von Steinäxten, Schaber, Klingen, Pfeilspitzen, keramische Scherben und Urnenreste. Teile slawischer Blockhäuser mit Herdstellen und zerdrückten Topfen, Schleifsteinen, Spannwirtel, Knochenschlittschuhen u.a. Gebrauchsgegenständen erfaßten Archäologen bei ihren Grabungen. Reste von Lederschuhen, geschnitzte Holznägel, Dauben von Holzgefäßen und eine große Sichel – hergestellt aus einer Rippe –, befinden sich im Archäologischen Landesmuseum.

Rechlin ist ein Bauerndorf slawischen Ursprungs.
Der Ortsname könnte von „radu“ (flink, froh oder bereit) abgeleitet sein.
Am 24. August 1374 wird Rechlin erstmals urkundlich erwähnt. An diesem Tag wird der Kaufvertrag gültig, der den Verkauf von drei Hufen Land, von Beteke von Kergberg’s an den Knappen Jakob Barnewitz, in Rechlin regelt. Dieses Adelsgeschlecht ist bis ins 17. Jahrhundert eng mit der Geschichte Rechlins verbunden.
Bereits 1497 gab es in dieser Familie zwei Linien. Während die eine ein Hauptgut im Lande Brandenburg besaß, verfügte die zweite Linie über den Ort Krümmel als ihr Hauptgut. Die Güter Retzow und Kotzow befanden sich ebenfalls in ihrem Besitz.
Rechlin war ein Vorwerk des Gutes Retzow. Mit dem Aussterben des Mannesstammes derer von Kergberg im 18. Jahrhundert ging das Eigentum an die von Barnewitz über.
Diese verkauften das Dorf Rechlin bereits 1710 an Oberst Kaspar-Christoph von Langermann. Zwei Jahrzehnte später hatten die Barnewitz ihren Besitz zurück.
1741 erlosch der Mannesstamm Die herzögliche Verwaltung der Güter klärte eine vormundschaftliche Regelung.
1754 treten die von Lowtzow und dann 1787 die von Hammerstein die Rechtsnachfolge an.
Das Vorwerk Rechlin soll bereits während des I. Weltkrieges vom Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin übernommen worden sein.
Das Kirchlehn befand sich seit Bestehen des Ortes in Rechlin.
1676 brannte das. Gotteshaus ab, 1689 wurde es wieder aufgebaut.
Ein Bericht aus dem Jahre 1771 schildert die Baufälligkeit der Kirchen Rechlin, Retzow und Roggentin. 20 Jahre später wurden die Kirchen in Rechlin und Retzow abgerissen. Roggentin wurde Kirchort.

1802 legte man fest, daß Rechlin eine neue Kirche erhalten soll. Das zögerte sich wegen der napoleonischen Kriege bis 1816 hinaus. Sechszehn Jahre bauten die unzähligen Handwerker an dem neuen Bau. 1832 konnte die jetzige Kirche geweiht werden.
Danach erfolgte der Abbruch der Roggentiner Kirche
Im Jahre 1842 bestand Rechlin aus dem Gutshof mit 9 Katen und der Pfarrkirche.
74 Einwohner zählte der Ort. Zum Ende des Jahrhunderts lebten hier 110 Seelen.
1912/13 hatte Rechlin als Ortsteil von Retzow nur noch 75 Einwohner.

II. Die Wege des Dorfes Rechlin zur „Lehr- und Prüfanstalt“ der deutschen Luftfahrt bis 1918

Deutschland rüstete um die Jahrhundertwende militärisch auf. Neue Kriegstechnik hielt in den modernen Armeen der Welt Einzug. So auch das Flugzeug. Das kaiserliche Heer unterstützte den Aufbau einer Luftfahrtindustrie. 1910 gründeten sich in Berlin-Johannisthal die „Albatros-Werke“. Sie gehörten zu den ältesten deutschen Flugzeugwerken und gingen aus der „Ikaros-Gesellschaft“ hervor, 1913 produzierte diese Firma 86 Flugzeuge.

3_Kapitel-II_Bild-1.jpg Das erste Albatros-Flugzeugmuster

Das Kaiserreich stellte 1912 eine Fliegertruppe des Heeres und 1913 eine Marinefliegerabteilung auf. Die Geschäftsleitung von „Albatros“ war Initiator dieser engen Beziehung zum Militär.

1. August 1914
Um 17.00 Uhr ordnet Deutschland die Mobilmachung an und erklärt zu gleicher Zeit Rußland den Krieg. Um 23.00 Uhr werden Befehle zum Aufmarsch der Truppen an der Westfront erlassen. In der Frühe des 2. August besetzen deutsche Truppen Luxemburg. Am 3. August wird Frankreich der Krieg erklärt und am 4. August in Belgien einmarschiert.

Der Erste Weltkrieg tobt.
Völlig neue Dimensionen der Kriegsführung entwickeln sich infolge des massenhaften Einsatzes von industriell gefertigten Rüstungsgütern. Zahlreiche technische Erfindungen wie das Automobil, neuartige Artilleriegeschütze, Maschinengewehre, Munition und das Flugzeug, führten zu riesigen Materialschlachten. Unvorstellbare Mengen an Kriegsgeräten gingen verloren und Millionen Soldaten fielen für „Gott und Kaiser“. Die Kriegsindustrie arbeitete Tag und Nacht. Höhere Anforderungen ergaben sich an die Produktion und an das Leistungsvermögen der Kriegstechnik.

1915 wird in Johannisthal eine „Flugzeugmeisterei des Heeres“ aufgebaut. Diese Prüfanstalt mit Werft entsprach den damaligen Bedingungen und wurde wegweisend für die zukünftige deutsche Luftfahrt. Zur gleichen Zeit entsteht bei Mirow ein Flugplatz. Er wies jedoch Mängel auf,
1916 erschienen die ersten Kampfflugzeuge „Albatros“ an der Westfront.

3_Kapitel-II_Bild-2.jpg 3_Kapitel-II_Bild-3.jpg

Der Bedarf an Flugzeugen war groß. Die Muster mußten mit ihrem gesamten Gerät präzis geprüft werden. Dazu war das Gelände in Johannisthal zu klein.
Das Kriegsministerium ging auf Suche und fand einen solchen Platz im Jahre 1916 auf der Gemarkung des Vorwerkes Rechlin. Sofort wurde mit den Bauarbeiten für die „Lehr-und Prüfungsanstalt“ mit einheimischen Arbeitskräften und russischen Kriegsgefangenen begonnen. 1917 entstand die 17 km lange Bahnstrecke von Mirow nach Ellerholz und damit der Anschluß an das deutsche Bahnnetz. Im gleichen Jahr zog die Anstalt nach Rechlin.

Am 29. August 1918 übergab Großherzog Friedrich Franz IV. offiziell diese Anlage.
Aus diesem Anlaß wurde auf dem Sprott’schen Berg, der gleichzeitig in „Friedrich-Franz-Höhe“ umbenannt wurde, ein Gedenkstein errichtet.
Die Albatros-Werke erscheinen als Inhaber der entstandenen Anstalt.
1918 baute Albatros bereits 8 500 Flugzeuge. Sie „bewährten“ sich an den Ost- und Westfronten des Krieges. Das deutsche Kaiserreich verlor den von ihm angezettelten Krieg.

11. November 1918
Matthias Erzberger, der Leiter der deutschen Waffenstillstandsdelegation unterzeichnete in dieser Nacht die von den alliierten Siegern vorgelegten Waffenstillstandsbedingungen im Wald von Compiegne, unweit von Paris. Die vierjährigen Kampfhandlungen waren beendet. Das deutsche Kaiserreich und Rußland waren die Verlierer.

3_Kapitel-II_Bild-4.jpg Rechlin um 1916 links die Müritz, in der Mitte der Classee, rechts davon die Gebäude der Flugzeugmeisterei des Heeres

III. Rechlin und die geheime Aufrüstung der deutschen Luftwaffe in der Weimarer Republik

1. Der Versailler Vertrag wird umgangen
Die Siegermächte diktierten mit dem „Versailler Vertrag“ am 28. Juni 1919 dem Deutschen Reich in Abwesenheit – im Artikel 201 das Verbot jeglicher militärischer und ziviler Motorfliegerei auf. Die Entwicklung und der Bau von Motorflugzeugen durften ebenfalls nicht betrieben werden. Innerhalb von 3 Monaten nach Inkrafttreten des Vertrages, hatte Deutschland sein gesamtes Luftfahrtmaterial an die Alliierten abzuliefern.

Auch in Rechlin kamen alle Aktivitäten zum Erliegen. Bereits funktionierende Anlagen und die inzwischen bis zum Bolter-Kanal reichende Eisenbahn, wurden demontiert.
Deutschland durfte ein 100.000 Mann-Heer aufbauen. Die Reichswehr entstand.
Unter Umgehung des Versailler-Vertrages schafft man getarnte Dienststellen und Einrichtungen für den Wiederaufbau des Heeres und der Heeresflieger.
Weiß nicht ein jeder von uns, daß Verbote immer dazu führen, Wege zu suchen, um sie zu umgehen? Und man fand sie: „Wenn nicht mehr der Motorflug betrieben werden durfte, dann eben ohne Motor.“

Ehemalige Flugbegeisterte und Flieger wenden sich dem motorlosen Fliegen, dem Segelflug zu. Bereits 1919 bildeten sich Fluggruppen. Aus ihnen entwickelten sich Flugsportvereine. Offiziere und Kriegsflieger übernahmen die Leitung und Ausbildung des Nachwuchses. 1920 fand der 1. Rhönwettbewerb statt. Die Anfänge waren primitiv. Die Flieger bauten ihre Segler selbst. So u. a. die „Besenstielkiste“. Die ersten Schulgleiter, „Grunau 9“, bekannt unter dem Namen „Schädelspalter“, bauten die Vereine.
Sie flogen die „Vampyr“ und das „Grunau Baby“. Überall in Deutschland entstanden Segelflugplätze und -schulen. in Rechlin schuf man 1920 auf dem Gelände der ehemaligen Anstalt den „Luftfahrtrein Waren e.V.“.
Das Bauverbot von Motorflugzeugen führte dazu, daß deutsche Flugzeugfirmen ins Ausland abwanderten. Fokker verlegte 1919 die ursprüngliche Produktionsstätte aus Schwerin in die Niederlande. Dornier ging in die Schweiz und Professor Heinkel baute bei der „Svenska Aero A.B.“ bereits Flugzeugtypen, die Deutschland nicht bauen durfte. Wie erst heute bekannt wird, arbeitete die Reichswehr und die Rote Armee auf militärischem Gebiet seit Sommer 1920 geheim zusammen. Beide Staaten als Verlierer des Krieges wurden weltweit geächtet, Über Deutschland wachte eine internationale Militär-Kontrollkommission. Das ehemalige kaiserliche Offizierkorps fühlte sich in seinem Selbstwertgefühl schwer getroffen.

2. Die Zusammenarbeit des deutschen Militärs mit Sowjetrußland
Die Rote Armee benötigte nach dem fürchterlichen Bürgerkrieg und nach der Niederlage gegen Polen 1920 eine neue Militärdoktorin und technologische Erneuerung der Militärtechnik.1920 konstituierte sich im Reichswehrministerium unter Leitung des Chefs der Heeresieitung Generaloberst von Seeckt, eine „Sondergruppe R“ (Rußland).

Der Bevollmächtigte der Sowjetregierung in Berlin, Victor Kopp, meldete nach Moskau, daß diese Gruppe „mit uns bei der Wiederherstellung unserer Kriegsindustrie zusammenarbeiten“ wird. Am 6. Mai 1921 vereinbarten die Reichsregierung und die Sowjetregierung ein Handelsabkommen. Beide Seiten erkennen sich gleichzeitig völkerrechtlich an. Dieses Abkommen sieht einen Stahlexport Deutschlands und die Waffenproduktion in der Sowjetunion als Schwerpunkt vor.

Auch der am 16. April 1922 in Rapallo bei Genua abgeschlossene Sondervertrag sowie der am 24. April 1926 unterzeichnete Neutralitäts- und Freundschaftsvertrag zwischen beiden Staaten bahnten die Wege zur militärischen Zusammenarbeit. Das bewog die Militärs beider Seiten, die Zusammenarbeit … „auf dem Gebiet der militäirischen Schulung, des Erfahrungsaustausches, der technischen und taktischen Erprobung“ … zu verlagern. Die Dessauer Junkers-Werke errichteten in Fili bei Moskau eine Zweigstelle. Mit geheimen Subventionen der Reichswehr wurden dort Flugzeuge gebaut und Verkehrsflugzeuge zu Bombern umgebaut. Junkers entwickelte und baute die Junkers „Ju-52“, die „Ju-86“ und „Ju-90“. Ab 1923 stellte die Sowjetunion der Reichswehr den Flugplatz Lipezk am Woronesh zur Verfügung.

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Im Laufe des. Jahres 1924 nahmen Offiziere der Reichswehr ihre Tätigkeit als Berater der sowjetischen Luftflotte auf. Im April 1925 wurde ein Vertrag über die Einrichtung einer deutschen Fliegerschule am Badeort Lipezk geschlossen. Bereits im Sommer 1925 begannen die ersten Testflüge mit Fokkermaschinen. Hier erfolgte auch bis 1933 die jährliche Ausbildung von etwa 240 Piloten. Zukünftige Offiziere für die deutsche Luftwaffe waren ebenso hier. Als Gegenleistung erhielt die Sowjetunion je eine Maschine der hier erprobten Typen kostenlos und man gestattete ihr den Nachbau ohne Lizenzgebühren.

1928 errichteten beide Seiten in Kasan an der Wolga eine deutsche Panzerschule, an der neu entwickelte Kampfwagen von Krupp und Rheinmetall erprobt wurden. Hundert Kilometer nördlich von Saratow an der Wolga experimentierten deutsche Wissenschaftler auf einem Versuchgelände mit den Kampfstoffen Lost und Phosgen. Regelmäßige gegenseitige Truppen- und Manöverbesuche wurden zur Praxis.

4_Kapitel-III_Bild-2.jpg Reichspräsident Hindenburg begrüßt anläßlich der Herbstmanöver 1932 eine sowjetische Militärdelegation.

Mit der Anerkennung der militärischen Gleichberechtigung Deutschlands auf der Genfer Abrüstungskonferenz im Dezember 1932 bestand für diese Zusammenarbeit keine Notwendigkeit mehr. Alle militärischen Aktivitäten im Ausland liefen aus.

3. Der zielstrebige Aufbau der Erprobungsstelle Rechlin vor 1933

1925 kaufte der Warener Luftfahrtverein den Flugplatz Rechlin für das „Reich“ zurück. Albatros wurde deren Besitzer. Finanziert wurde das Unternehmen von der „Lahn 6 F“ der Reichswehr. Hinter diesem Decknamen verbarg sich die geheime „Luftfahrtinspektion“ im Heereswaffenamt des Reichswehrministeriums. Diese Abteilung war für alle Fabrikationsfragen sowie der Entwicklung und Erprobung von Flugzeugen zuständig. Der Leiter der Luftfahrtinspektion war Hauptmann Kurt Student.

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Bekannt wurde er als General der Flieger und Befehlshaber des XI. Fliegerkorps mit der 7. Fallschirmjägerdivision im Unternehmen „Merkur“, der deutschen Landung auf der griechischen Insel Kreta am 20. Mai 1941. Er blieb seinem „Führer“ bis zur Niederlage Deutschlands am 8. Mai 1945 treu.

Die Albatros-Werke waren nach dem ersten Weltkrieg die ersten, die Aufträge zur Entwicklung neuer Kriegsflugzeuge erhielten. Sie waren auch die finanziell am großzügigsten bedachten Flugzeugwerke Deutschlands. Es entstanden die Aufklärer L-65, L-70, L-76 und L-77, die mit einem starrem und einem beweglichen MG vom Kaliber 7,9 mm ausgerüstet waren. Man baute den Versuchsaufklärer L-74 und für die Militärfliegerausbildung die L-75

4_Kapitel-III_Bild-4.jpg L-74

Für die deutsche Fliegerei kamen die „goldenen zwanziger jahre“.

1926 wurde die „Deutsche Lufthansa“ gegründet, im gleichen Jahr auch die deutschrussische Luftverkehrsgesellschaft „Deruluft“.

Auch mit demBau moderner und großer Verkehrsflugzeuge durfte Deutschland beginnen. 36 Reichswehrangehörige konnten sich auf eigene Kosten innerhalb von 6 Jahren im Sportfliegen ausbilden lassen.

Die Albatros-Werke erhielten durch das Reichswehr- und Reichsverkehrsministerium zum Bau und der Erprobung der Flugzeugmuster und dem flugtechnischem Gerät, Darlehen in Höhe von 874-000 RM und einen weiteren Kredit von 1.274.000 RM.

1926 verlegten die Albatros-Werke den Flugbetrieb und die Erprobungen aus Johannisthal auf den Rechliner Platz. Ein Jahr später folgten Arado, Heinkel und Messerschmitt. Zu dieser Zeit waren bereits die Voraussetzungen zur Prüfung einer neuen Generation von Militärflugzeugen in Rechlin vorhanden.

1927 begann die Erprobung der bisher entwickelten.

  • Jagdeinsitzer Arado SD I,
  • Nachtjagd- und Erkundungsflugzeuge des Typs Bf 22 der Bayerischen Flugzeugwerke
  • Erkundungsflugzeuge Heinkel He-41 und Aibatros L-78.

Im gleichen Jahr wurde mit dem Bau von Wohnunterkünften für die Beschäftigten begonnen. Das „Cafe Achteck“ entstand 1927/28 in der Nähe des Classees. Als Holzbau mit achteckigem Turm bot es mit einer Küche und Aufenthaltsraum auch Obernachtungsmöglichkeiten.
Hier am Classee stand das Dorf Rechlin. Seit etwa 100 Jahren wohnten und wirtschafteten auf der Fläche 4 Bauern. Auch ein Vorwerk des Gutes Retzow befand sich in dem Ort. 1928 war der Aufbau des Flugfeldes soweit fortgeschritten, daß das Dorf geschliffen wurde. 700 Menschen lebten in den errichteten Unterkünften.
Unter der Leitung von Diplomingenieur Walter Blume entstand 1928/29 aus der L-78 ein einsitziger Doppeldecker, die L-79 mit dem Namen „Kobold“. Er war für den uneingeschränkten Kunstflug ausgelegt.

4_Kapitel-III_Bild-5.jpg L-79 „Kobold“

Man erprobte in den Jahren 1929/31 auf dem Gelände

  • die Heinkel He-45, He-46 und He-51,
  • Arado Ar-64 und Ar-65,
  • Junkers Ju-K47 und
  • die Dornier Do-11.

Mit der Vorstellung dieser Maschinen, die zur Erstausstattung der späteren Luftwaffe gehörten, entwickelte sich Rechlin endgültig zum Zentrum aller Erprobungen deutscher Militärflugzeuge. Es wurde in die „Erprobungsstelle des Reichsverbandes der Deutschen Luftfahrtindustrie“ umbenannt.

4_Kapitel-III_Bild-6.jpg Rechlin-Nord

Die Weltwirtschaftskrise 1929 und Mißerfolge beim Bau von Verkehrs- und Sportflugzeugen führten Albatros 1930 in den Konkurs. Die Werke wurden jedoch beim Aufbau einer leistungsfähigen Luftflotte benötigt. Mit kräftiger Hilfe der Regierung, fusionierte A!batros am 21. August i 931 mit den Focke-Wulf Werken. Sie gründeten sich am 01.01.1924.
Der Weimarer Staat erließ den Albatroswerken eine Reichsschuld von 526.000 RM, gewährte ihnen ein neues Darlehen von 400.000 RM, stellte 50.000 RM zum Kauf von Flugzeugen bereit und sagte eine Hilfe von weiteren 50.000 Reichsmark zu.

Die Focke-Wulf-Flugzeugbau A.G. rückte in die vordere Reihe der deutschen Flugzeugwerke. Hochbegabte Konstrukteure wie Georg Wulf und Kurt Tank trugen dazu bei. Hinter dem Werk stand auch das Geld Bremer Kaufleute und Reeder. Über die Lorenz A.G. gelangte sogar US,Kapital in das Unternehmen.

Die Anerkennung der militärischen Gleichberechtigung Deutschlands auf der Genfer Abrüstungskonferenz im Dezember 1932 führte im Reichswehrministerium zu dem Entschluß, alle Flugerprobungen im Ausland auslaufen zu lassen.

4. 1933 – Der umfassende Aufbau der Erprobungsste!le Rechlin wird nahtlos weitergeführt

Reichspräsident Paul von Hindenburg ernennt am 30. Januar 1933 Adolf Hitler, den Führer der NSDAP, zum Reichskanzler und löst am !. Februar den Deutschen Reichstag auf. Die Ereignisse überschlagen sich.

Das Reichstagsgebäude in Berlin brennt am 27. Februar.
Einen Tag danach setzt Hindenburg zur „Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ die Notverordnung „Zum Schutze von Volk und Staat“ in Kraft.
Hermann Göring als preußischer Innenminister- für die Polizei des größten deütsehen Landes zuständig erklärt“

„Meine Maßnahmen werden nicht an gekränkelt sein durch irgen dwelch ej uris tisch e Bedenken. Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche Bürokratie. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten undauszurotten, weiternichts.“

Kommunisten und Sozialdemokraten werden für die Tat verantwortlich gemacht. Eine große Verhaftungswelle beginnt.

Der kommissarische Polizeipräsident von München, Heinrich Himmler, läßt am 30. März in der Nähe von Dachau das erste Konzentrationslager errichten.

Am 21. März 1933 konstituiert sich der neu gewählte Reichstag mit einem Staatsakt in der Potsdamer Garnisonskirche. Hier treffen sich die Spitzen der NSDAP mit der alten Elite Deutschlands: Angehörige des Hauses der Hohenzollern, Generäle und Feldmarschälle, Vertreter des Adels, der Kirche und der Konzerne.

Der weltweit bekannte Händedruck zwischen Hitler und dem greisen Hindenburg bedeutete das Ende der Weimarer Republik.

4_Kapitel-III_Bild-7.jpg Zwei Tage später verabschiedet der Reichstag das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, bekannt als „Ermächtigungsgesetz“.

Einige wenige der neuen Machthaber beherrschen die Szene.
Neben Adolf Hitler als Gallionsfigur des Nationalsozialismus als „Retter der Nation“, standen Heinrich Himmler als Führer der SS, der fanatische Rassist Joseph Goebbels sowie Hermann Göring als Reichsluftfahrtminister.

Bereits acht Tage nach Konstituierung des Reichstages, am 29. März 1933, startet um 15.42 Uhr vom Flugfeld Tempelhof eine Junkers Ju-52. Etwa 35 Minuten später landet die Maschine auf dem Rollfeld Rechlin.

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Ihr entsteigt Hermann Göring. An seiner Seite befinden sich Walter von Blomberg als Kriegsminister sowie der einstige Direktor der Lufthansa und nunmehrige Staatssekretär für Luftfahrt, Erhard Milch.

4_Kapitel-III_Bild-9.jpg Göring
4_Kapitel-III_Bild-10.jpg Milch
4_Kapitel-III_Bild-11.jpg Blomberg

Erhard Milch sah seine Stunde gekommen. Er führte den beiden Ministern vor, welche Ergebnisse im Aufbau der zukünftigen Luftwaffe bereits vorlagen. Milch war in seinem Element. Er kannte Göring schon lange und wußte ihm zu imponieren.
Bereits 1928 nahm er Kontakt mit Göring auf. Seit 1925 war er Chef der Zentralverwaltung der Deutschen Lufthansa, dann Hauptdirektor der Technischen Verwaltung und letztlich der Handelsvertretung. 1930 wurde Milch mit Hitler bekannt.
Am 28. Januar 1933 wird er von Göring über die bevorstehende Regierungsbildung unterrichtet. Er bietet ihm den Posten eines Staatssekretärs an. Abends konsultiert sich Milch mit einem Teil des Vorstandes der Lufthansa. Er ist fast identisch mit dem Vorstand der Deutschen Bank. Man fand Übereinstimmung zwischen der Luftfahrtindustrie, den Finanziers und der NSDAP. Milch wurde am 30. Januar 1933 im „Kaiserhof“ zum Stellvertreter Görings ernannt.

Bereits am 9. Februar 1933 beschloß das Reichskabinett, 40 Millionen Reichsmark für die Luftrüstung bereitzustellen. Vierzehn Tage später erteilte Milch den Flugzeugwerken Heinkel, Arado, Dornier, BMW, Siemens & Halske sowie Argus, Aufträge von 29 Millionen Mark. 11 Millionen erhielten Junkers, Focke-Wulf und Daimler Benz.

Konnte sich das nicht sehen lassen?
Göring und Blomberg zeigten sich begeistert. Auch sie nahmen die Gunst der Stunde wahr. Den Angehörigen der Erprobungsstelle hielten sie Vorträge über die zukünftige Luftrüstung und die Rolle der E-Stelle. Beide suggerierten den Beschäftigten, daß Rechlin von der Reichsregierung als eine der Nahtstellen angesehen werde, an der sich die Aufrüstung Deutschlands entscheiden werde.
Am 30. März, 12.45 Uhr startet die Maschine mit den hochbefriedigten Ministern wieder mit Kurs auf Berlin. Sie hatten es nicht für möglich gehalten, daß die Leistungsfähigkeit der Luftwaffe soweit fortgeschritten war.

Der Besuch zeigte Wunder.
In den deutschen Werken entstanden neue Muster von Kriegsflugzeugen. Das Rollfeld Rechlin war überfordert. Die große Zahl der zu prüfenden Maschinen und Geräte konnte mit dem vorhandenen Potential nicht bewältigt werden.

IV. Die Erprobungsstelle Rechlin – Zentrale zur Entwicklung der deutschen Luftwaffe bei der Vorbereitung und Durchführung des 2. Weltkrieges

Die Schaffung einer Liegenschaft in ungeahnten Ausmaßen stand auf der Tagesordnung. Bereits am 9. März 1932 begann der Bau des Grabens von der Müritz zum Classee. Dieser See sollte für die Erprobung von Wasserflugzeugen und anderem seekriegstechnischem Material dienen. Dem diente auch die später errichtete Seehalle. Am 24. August 1933 erging der Befehl, in Rechlin das Jagdgeschwader 1 als „Versuchs- und Erprobungsgruppe“ des Reichsverbandes der deutschen Luftfahrtindustrie zu bilden.

Auch der „Stab des Bombengesehwader 2“ fand seinen Sitz in Rechlin. Offiziell als zivile Dienststelle verkündet, war er Lehrstab für alle Bomberstaffeln der Luftwaffe.

Zugleich entstanden Lehrgruppen, die in Zusammenarbeit mit den Luftfahrttechnikern neue taktische Verfahren und Anwendungsmöglichkeiten der Luftfahrtechnik entwickelten.

Aus ihnen entstanden Lehrgeschwader, die in einem späteren „Ernstfall“ die in Rechlin geprüfte Flugtechnik zum Kampfeinsatz bringen sollten.

Es gab auch eine Sensation.

Auf dem Neuen Markt in Waren, zwischen dem Dach der damaligen „Adler Apotheke“ und dem Nebengebäude landete ein Eindecker im Jahre 1933. Er startete in Rechlin.

Über Waren setzte der Motor aus.

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Tausende Zuschauer wurden zu den eingeführten „Flugtagen“ angelockt. Höhepunkt war der Kunstflug mit der „Kobold“, ausgeführt von tollkühnen Piloten. Die Zuschauer kamen aus ganz Deutschland, aber auch aus Waren, Röbel, Neustrelitz, Mirow, Malchow und den umliegenden Dörfern. Sie waren begeistert, hingerissen. Sie glaubten an die Stärke ihres Vaterlandes. Patriotische Gefühle entwickelten sich in den Herzen der meisten Menschen. Sie taten alles, dieses Land neu zu gestalten.

Trotz des Flugbetriebs wurde zielstrebig am Ausbau der E-Stelle gearbeitet.

Eine wesentliche Voraussetzung war, daß Josef Törk sein Gut Retzow im Jahre 1934 „freiwillig“ an den NS-Staat verkaufte.

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Im gleichen Jahr begann mit enormen Tempo und ungezählter finanzieller sowie materieller Mittel der Bau zur Vergrößerung des Flugfeldes Rechlin. Eine nie gekannte Projektierungs- und Baukapazität konzentrierte sich in dem Gebiet.

Hunderte, ja tausende Arbeitskräfte aus der Müritz-Region, dem Gau Mecklenburg sowie aus anderen Teilen Deutschlands fanden ein langjähriges Arbeitsfeld. Der Tief- und Hochbaubetrieb Zacharias & Sohn aus Waren, mit dem Sitz Am Kietz, war einer der größten Partner.

In der Luftfahrtindustrie kamen neue Produktionsverfahren zum Einsatz, völlig neue Technologien zur Bereitstellung hochwertiger Prüfinstrumentarien schuf die Industrie.

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1. Zur Struktur der Erprobungsstelle Rechlin

Als Folge entstanden in Rechlin Prüfeinrichtungen, die dem Höchststand von Wissenschaft und Technik entsprachen. Als Standort wählte man den vorhandenen Flugplatz. Hier begann der Aufbau der Erprobungsstelle.

Um das runde Grasflugfeld herum, wurden die Gruppen „Nord“, „Ost“, „Süd“ und „West“ als Kern der Erprobungsstelle Rechlin errichtet.

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1. Gruppe Nord

In den Abteilungen überprüfte man die Bordausrüstung.

  • Abteilung E 2: Flugzeugzellen, Funk- und Navigationsgeräte,
  • Abteilung E 4: Bordgeräte und Ausrüstungen,
  • Abteilung E 5: Bodengeräte,
  • Abteilung E Med.: Flugzeugmedizinische Ausrüstungen,
  • Abteilung F: Hochfrequenz- und Ionosphärenforschung.

In dieser Gruppe wurden auch die Fahrwerke geprüft.

2. Gruppe Ost

Hier ging es um die Erprobung von Bomben, Bordwaffen und deren Zünder.

In der

  • Abteilung E 6 wurden die Munition für Bordschußwaffen,
  • Abteilung E 7 die Abwurfwaffen geprüft.

Diese Abteilung unterhielt Außenstationen.

3. Gruppe Süd

Das Bild dieser Gruppe – der Abteilung E 3 – war von den hohen Abluft- und Kühltürmen der Triebwerksprüfstände geprägt. Neben den Flugantrieben prüfte man auch deren Zubehör.

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4. Gruppe West

Hier untersuchte man die neuen Flugzeugmuster auf ihre militärische Eignung.

Jede Gruppe hatte fest umrissene Aufgaben auszuführen. Neben der Komplexität, herrschte die Arbeitsteilung und Spezialisierung vor.

Die Aufgabenstellung der E-Stelle könnte man folgendermaßen charakterisieren: Sie diente der Mustererprobung aller Kampfflugzeuge (keine Wasserflugzeuge) und ihrer Triebwerke, Ausrüstungsgegenstände und Bordgeräte, die zur Verwendung in der Luftwaffe vorgesehen waren.

Sie hatte festzustellen, ob das Gerät technisch in Ordnung war und den Anforderungen entsprach. Das betraf z.B. das Erreichen der geforderten Geschwindigkeiten, Steigleistung, Reichweite, Gipfelhöhe, Festigkeit, Stabilität und Steuerbarkeit.

Untersucht wurden weiter die Wartbarkeit, Führerraumgestaltung, Reparaturfreundlichkeit und die Auswirkungen auf den späteren Einsatz der Maschinen mit ihren Geräten in der Truppe.

Hier wurde die Mustererprobung der Schußwaffen und Abwurfeinrichtungen einschließlich ihrer Munition und Abwurfwaffen vorgenommen. Funk-, Bild- sowie Navigationsgeräte prüften die Meister und Ingenieure. Alle Geräte und Ausrüstungsteile, die zur Führung des Flugzeugs sowie für das Leben der Besatzung erforderlich waren, unterlagen einer eingehenden. Kontrolle. Das traf auch für alle Bergungs- und Bodengeräte zu. Alle for die Luftwaffe entwickelten Geräte, angefangen vom Höhenmesser bis zur Strahlturbine, vom Fahrwerksreifen bis zum Rettungsfallschirm, von der Sprengbombe bis zur Zündkerze sah man in Rechlin.

Die E-Stelle war federführend für Raketenstarthilfen und zuständig für alle Raketen und Strahltriebwerke.

In Rechlin fanden keine eigenen Forschungen und Entwicklungen statt. Die Untersuchungen und Prüfungen führten jedoch zur wesentlichen Verbesserung der übergebenen Muster bei. Unbrauchbare Muster wurden nicht in die Truppe eingeführt.

Die 4 Gruppen verband man mit einer „Ringbahn“. Sie war mit der Bahnstrecke nach Mirow und damit an das Reichsbahnnetz angeschlossen. Parallel dazu verlief eine Asphaltstraße. Auch sie war mit dem Reichsstraßennetz verbunden.

Im Bereich dieser 4 Gruppen entstanden außer den Prüfabteilungen weitere Liegenschaften, die nunmehr beschrieben werden:

In Rechlin/Nord entstand zwischen der Müritz und dem Ciassee die „Meistersiedlung“.

Es waren komfortabel eingerichtete Ein- und Zweifamilienhäuser. In ihnen wohnten der Kommandant der E-Stelle der Stabsarzt, Chef der Abwehr, der Oberingenieur, Leiter von Einrichtungen und führende Ingenieure mit ihren Familien.

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Links davor wurden 3 Ledigenheime eingerichtet. Sie dienten zur Unterbringung von Beschäftigten der E-Stelle als von Gästen und Kurzarbeitern.

5_Kapitel-IV_Bild-8.jpg Die linke Seite der „Meistersiedlung“. als auch 2 Ledigenheime wurden 1946 geschliffen.

In Rechlin/Nord befand sich der Sitz des Kommandos der E-Stelle Rechlin. Es entstanden hier weiter das Hauptfeuerwehrdepot, die Reparaturbasis für den Fahrzeugpark sowie ein Garagenkomplex. Zugleich befand sich hier der Haupteingang mit der Hauptwache.

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Etwa 200 Meter davor wurde der Bahnhof errichtet, Er diente als Haltestelle für die aus der Umgebung anreisenden Arbeitskräfte und zur Abfertigung des Güterverkehrs.

Von hier setzte sich der Schienenstrang fort, der die 4 Gruppen der E-Stelle verband.

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Heute ist nur noch dieser Bahnsteig zu sehen. An dieser Stelle hielt der „Führersonderzug“. Ein roter Läufer wurde vom Waggon über die zwei Stufen bis zur Betonstraße entrollt. Dann entstieg Hitler mit seinem Gefolge den Zug.

In Rechlin/West entstand der Sitz der Fliegerhorstkompanie Rechlin.

Zu diesem Komplex gehörten Kasernen, eine Soldatenkantine mit Kinosaal und das Wirtschaftsgebäude.

5_Kapitel-IV_Bild-11.jpg 5_Kapitel-IV_Bild-12.jpg 5_Kapitel-IV_Bild-13.jpg

Die Haltestelle „Ellerholz“ der Deutschen Reichsbahn sorgte für den Transport der Truppe innerhalb der E-Stelle als auch darüber hinaus. Auf der rechten Seite des Schienenstranges, im Gebiet der Gruppe West, befand sich der Garagenkomplex für die Fliegerhorstkompanie.

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Daneben lag der Sammelplatz für die im Gebiet der E-Stelle verunglückten Flugzeugmuster. Später kamen die, während des Krieges abgeschossenen alliierten Kampfflugzeuge dazu.

Von Rechlin/Süd ist heute nichts mehr zu sehen. Neben der Abteilung 3 der Gruppe Süd befand sich hier die „Zentrale Treibstoffversorgung des Flugplatzes Lärz“. Im Gebiet der Gruppe Süd, West, Ost und dem Dorf Roggentin befanden sich insgesamt 11 Treibstofftanks je 50.000 Liter. Diese, als eine ebenfalls unterirdisch verlegte Pipeline, waren miteinander verbunden. Von der Gruppe Süd aus, führte die Leitung am Sprott’schen Berg vorbei zum Flugplatz Lärz.

In Rechlin/Ost standen als Einrichtungen der Abteilungen E 6 und E 7

  • das Munitionslager, im Volksmund Muna genannt,
  • die Schießbahnen und
  • der Schleuderprüfstand

Im Munitionslager fand man alle Arten von Geschossen, Bomben und Zünder für die Flugtechnik. Sie wurden in den Prüfstationen der Gruppe Ost, auf den Schießbahnen sowie dem Schleuderprüfstand getestet.

Vom Munitionslager ist nichts mehr zu sehen. Dies war der Schießstand für Maschinengewehre. Links hinter dem aufgeschütteten Erdwall probte man auf der ca. 800 m langen Schießbahn die entwickelten Flugzeugkanonen.

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Von der Gruppe Ost und der Muna führte ein Feldbahngleis zum Schleuderprüfstand.

Über diese Bahn erfolgte der Transport der Bomben und Abwurfeinrichtungen.

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Vordergründig ging es hier um die Prüfung der Bombenschächte mit ihrer Bombenlast in den verschiedensten Fluglagen. Riesige Kräfte wirkten auf den Halte- und Auslösemechanismus wie z.B. im Sturz- und Steilflug.

Hinter dem Bunker entstand ein runder betonierter Prüfstand Auf ihm erfolgte mittels eines Schleuderverfahrens die Erprobung der Mechanismen. In der Mitte des Platzes befand sich eine „Schleuder“, ein Karussell auf Schienen. Die extremsten Fluglagen der Kampfmaschinen wurden auf ihm simuliert.

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Unter diesen Bedingungen erprobte man das Funktionieren der Abwurfeinrichtungen, die richtige Lagerung der Bomben in den Schächten und das Schärfen der Zünder.

Während der Zeit des Aufbaus der E-Stelle regelte Göring durch einen Erlaß am 15. Oktober 1935 die Gliederung und Unterstellung der technischen Versuchsstellen.

Es entstand das „Kommando der Erprobungsstellen der Luftwaffe“ mit dem Sitz in Rechlin.

Es erhielt die Bezeichnung „Luftgau XI., Verwaltung III B AZ 631 40 Rechlin“.

Der oberste Dienstherr war der Chef des technischen Amtes, Generalluflzeugmeister Ernst Udet im RLM.

Dem Kommando Rechlin wurden im Verlauf der Jahre folgende E-Stellen unterstellt:

  • Travemünde Wasserflugzeuge
  • Tarnewitz Bordwaffen
  • Udetfeld, Kr. Ratibor Bomben
  • Peenemünde Entwicklung und Erprobung von Raketen;
  • Gotenhafen Torpedo
  • Madüsee Torpedo
  • Werneuchen Funkmeßgeräte
  • Foggia Flugzeuge
  • Münster Nord

Diesen E-Stellen unterstanden weitere Nebenstellen.

So Dorpat, Hohe Welt b. München und Westerplatte.

2. Der Plan des umfassenden Aufbaus des Flugplatzes Rechlin und die Veränderung des „Gesichts“ einer ganzen Region für die Rüstung

Die Arbeiten zur Errichtung der Abteilungen der E-Stelle gingen zügig voran.

Aus dieser Zeit ist eine Episode bekannt:

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Die Arbeiter aus Waren dampften täglich mit der „Fontäne“ nach Rechlin. An einem Tag im Oktober 1935 fuhr der Dampfer morgens gegen 6.00 Uhr im dichten Nebel hinter Kamerun vor der Eldeeinfahrt auf Grund. Die Besatzung hatte sich geweigert auszulaufen. Der zuständige Mitarbeiter des Warener Arbeitsamtes in der Großen Burgstraße hatte trotzdem die Ausfahrt angewiesen. Der Steuermann befahl den Maschinisten, die Maschinen auf vollen Touren laufen zu lassen. So lief es auf die Sandbank. Die Arbeiter hatten hohe Schuhe an und konnten so trockenen Fußes an Land gehen. Versuche, die „Fontäne“ durch das kleinere Schwesterschiff „Karl-Maria“ und später mit dem Plauer Dampfer „Anna“ gemeinsam freizuschleppen, scheiterten. Erst vier Winden der Deutschen Reichsbahn mit je 400 Zentner Tragkraft und mittels grüner Seife und OeI führten zum Erfolg. Die Bergungsarbeiten dauerten fünf Tage.

Die Zahl der zu erprobenden Kampfmaschinen wuchs mit dem Aufbau der deutschen Luftwaffe erheblich. Das Rechliner Rollfeld reichte nicht mehr. Es wurde um das sich anschließende Grünland zum Rollfeld Roggentin erweitert. Auch dieser Platz war unbefestigt. Der Gutshof und das Dorf Alt-Roggentin sowie der Roggentiner Krug wurden 1935 geräumt. Ausgangspunkt des Rollfeldes war die „Junkers-Halie“, die bereits 1917 entstand. Hier spielte sich nunmehr das Fliegerleben ab.

Die per Gesetz vom 26. Juni 1935 eingeführte Reichsarbeitsdienstpfiicht verlangte von allen Deutschen beiderlei Geschlechts ab dem 18. Lebensjahr einen halbjährigen Pflichteinsatz. Der Reichsarbeitsdienst (RAD) errichtete sein Lager am Rande des Roggentine/Rollfeldes. Auch die Hitlerjugend war präsent. Am 1. Dezember 1936 erläßt die Reichsregierung das Gesetz über die HJ als Jugendorganisation der NSDAP.

Wenig später bauen junge Menschen ab dem 14. Lebensjahr die ehemalige Scheune des Gutshofes Roggentin zur Segelfliegerhalle aus, richten das davor liegende Ackerland als HJ-Segelflugplatz ein und betreiben ihn. Der Krug war bereits 1938 verfallen, das Dorf 1945 wüst.

Mit Hochdruck wurde der Bau des Müritz-Havel-Kanals vorangetrieben. 1936 konnten die Lastkähne und Motorboote ihn befahren. Gleichzeitig wurde der Bolter-Kanal gesperrt. Er diente bisher als Wasserweg nach Berlin.

5_Kapitel-IV_Bild-18.jpg Bolter Kanal 5_Kapitel-IV_Bild-19.jpg

Nun konnte ein weiteres Übungsfeld, der Fliegerschießplatz entstehen. Er erstreckte sich entlang des Ostufers der Müritz von Rechlin bis zum Bolter Kanal und bezog den Gutshof Klopzow sowie das dazugehörige Dorf ein. Die Bewohner hatten ihre Wohnungen zu verlassen. Die Gebäude dienten bis 1938 als Zielscheibe. Dann war alles plattgemacht. Nun wurden „Schießwälle“ aufgeschüttet. Zwischen ihnen, den „Tälern“, standen Attrappen.

In diesem Gebiet entstand weiter ein unterirdischer Schießstand und ein „Kälteprüfstand“. In ihm wurde Munition unter extremen Minus-Graden erprobt.

Die Maschinengewehre und -kanonen konnten nunmehr im Flug erprobt werden. Zunächst starteten die Kampfflugzeuge von den Flugfeldern Rechlin und Roggentin, später von der Lärzer Flugpiste. In der Nähe baute man noch einen unterirdischen Schießstand.

Auch dieses Gebiet reichte nicht. Am 15. 04. 1937 wurde die gesamte östliche Seite der Müritz, vom Dorf Rechlin/Nord bis zum Flötter-Graben, zum Sperrgebiet Außenmüritz erklärt. Selbst die Fischerei durfte nicht mehr betrieben werden. Die in der Gruppe Ost erprobten Bombenabwurfeinrichtungen und -schächte der Bomber, Sturzkampfflugzeuge und Jagdbomber sowie die Bomben wurden hier getestet. Zu diesem Zweck befanden sich, verteilt auf der Müritz, Pontons und andere Ziele.

Hier sehen wir eine 500 kg schwere, 1,65 m hohe Original-Zielattrappe.

5_Kapitel-IV_Bild-20.jpg Aufgenommen von dem bekannten Warener Tierfotografen Herrn Karl-Heinz Moll am 21. 09. 1969.

Nun brausten die Jagd- und Bombenflugzeuge über das Wasser der Müritz dahin. Ob im Hoch-, Tief- und Sturzflug. Sie schossen mit scharfer Munition und warfen geschärfte Bomben in die Müritz und auf das Ufergebiet. Zu Hunderten, ja letztlich zu Tausenden, schwammen die zerrissenen Fische und Wasservögel in dem zerfurchten „Meer“. Aber auch das Binnenland östlich des Sperrgebietes verschonten die schießenden und bombenden Maschinen nicht. Hier waren auch Fallschirmjäger zu sehen. Sie sprangen in unwegsames Gelände und in die See. Das Transportflugzeug Junkers Ju-52 war ihre Maschine.

SPERRGEBIET AUSSENMÜRITZ FLIEGERSCHIESSPLATZ

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Später, zum Ende des zweiten Weltkrieges, kamen dann „Wunderwaffen“ der Kriegsmarine auf die Außenmüritz. Sie sollten als „Hitlers Rache“ den bereits verlorenen Krieg zugunsten Deutschlands umkehren. Kleinst-U-Boote und Fernlenkwaffen flitzten über das Wasser. Spezialisten der Marine-Nachrichtenschule Warenshof waren an den Erprobungen beteiligt.

Auf den Naturschutz wurde gepfiffen. Das auf Initiative des Warener Naturschutzbeauftragten Herrn Bartels geschaffene Vogelschutzgebiet „Müritzhof“ wurde von dem Specker Jagdherren Hermann liquidiert.

Der Gutsbesitzer Freiherr le Fort zu Boek verkaufte 1934 sein Gut an den Staat.

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Die Bewohner des Ortes Boek mit seinen Vorwerken Boeker Mühle, Zartwitz, Amalienhof sowie der Orte Boeker Schlamm und Priesterbeck blieben auf ihren Arbeitsplätzen bzw. begannen eine Tätigkeit auf der E-Stelle. Als Verwalter wurde ein Herr Jack eingesetzt. Da er Jude war, wurde er abgesetzt. Ihm gelang es jedoch, 1938 rechtzeitig zu emigrieren. An seine Stelle trat das Mitglied der NSDAP, Herr Rassow. Er blieb bis zum Ende des Krieges 1945 der Verwalter. Das Gut wurde ausgebaut und modernisiert.

In Boek entstanden ein neuer Schaf- und Kuhstall sowie 5 Wohnhäuser. Während der Kriegsjahre arbeiteten hier polnische Kriegsgefangene und sowjetische Zivilarbeiter.

„Ost“ stand auf ihrer Kleidung. Ab 1944 setzte die Leitung der E-Stelle auch männliche KZ-Häftlinge aus dem Nebenlager Retzow zu allen Arbeiten auf dem Gut ein.

Inmitten der Boecker Landschaft wurde der Boeker Sender errichtet. Bis heute ist er geheimnisumwittert. Den meisten Einwohnern und den damaligen Angehörigen der E-Stelle ist er nur vom Hörensagen bekannt. Nur wenige Bürger haben ihn gesehen.

Die Eigenart des Senders besteht darin, daß 4 Sendetürme im Abstand von jeweils ca.

100 Meter errichtet wurden. Die Masten waren nicht wie üblich aus Stahl, sondern aus Vierkanthölzern ausgeführt. Sie waren mit Stahlstreben verbunden.

Diese Zeichnung stellt eine Rekonstruktion der Sendeanlage Boek nach Erinnerungen ansässiger Bürger dar.

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Es waren Hochfrequenzsender für den Lang- und Mittelwellenbereich. Nach vorliegenden Erkenntnissen wurde auch im Niederfrequenzbereich gearbeitet. Zur damaligen Zeit befand sich dieser UKW-Bereich noch in der Entwicklung und Erprobung.

Neben den 4 Sendetürmen standen, entgegen der Zeichnung, auf der rechten Seite des Weges nach Boek etwa 8 Sendemasten mit 12 Meter Höhe. Sie waren aus Rundholz gefertigt. Im Hintergrund der-Sendetürme befand sich ein Feldflugplatz. Noch heute sind es die „Senderwiesen“.

Der Sender Boek hatte mit dem Flugbetrieb der E-Stelle nur bedingt etwas zu tun. Jedoch war er ihr unterstellt. Seine Sender- und Empfangsanlagen führten wie die E-Stelle, Erprobungen im gesamten Sendebereich durch. Er wurde für die ständige Verbindung zwischen dem Oberkommando der Luftwaffe und den Luftflotten als auch mit der E-Steile Rechlin genutzt, Über ihm wurden Befehle übermittelt. So auch der Befehl zum Beginn des Unternehmens „Weserübung“ – den Überfall auf Norwegen am 9. April 1940, 5.00 Uhr.

Nach Erkenntnissen des britischen Geheimdienstes wurde das X-System (Lorenz-Verfahren), auch als Knickebeinsystem bekannt, im Sender Boek erprobt und bei der Bombardierung englischer Städte angewandt.

Nun benötigte man ein Gelände zum Erproben des breiten Arsenals von Abwurfwaffen. Große Teile der „Leppiner Heide“, vorwiegend Ackerland, erklärte man zum Bombenplatz Leppin. Auch hier mußten die Bewohner des Gutes, des Dorfes, der Schule und der Fischerei Leppin den Bomben weichen. Die „Gelbe Zone“, das Kerngebiet der Erprobung, lag zwischen dem Hof- und Retzsee als westliche und dem Leppiner-See als östliche Begrenzung.

In dem Gebiet stand ein Beobachtungsturm (B-Turm), am Ende des Gebietes ein Auswertehäuschen. Hier endete eine Eisenbahnlinie. Sie diente zum Transport der Spezialisten- den Auswertern-, die nach den Bombenabwürfen die Wirkungen untersuchten. Die ersten Bomben fielen 1936.2 Jahre später waren die Orte plattgebombt.

Um Mißverständnisse vorzubeugen: Die Dörfer Alt-Roggentin, Leppin und Klopzow lagen zwichen Rechlin/Retzow und Bolter Mühle. Sie sind alle durch den Flugplatz Rechlin von der Bildfläche verschwunden.

Dieser Bombenplatz reichte nicht. Die E-Stelle verleibte sich das Gebiet östlich des Leppiner-sees sowie die Dörfer Zartwitz, Zietlitz, Schillersdorf, Qualzow und Granzow ein. Zartwitz war ein Vorwerk des Gutes Boek. In den anderen Dörfern wirtschafteten Mittelbauern und Häusler. Auch sie verkauften ihre Häuser sowie das lebende und tote Inventar „freiwillig“ an den Staat. Eine neue Bleibe fanden sie in der Umgebung.

Der Schillersdorfer Bombenplatz – ursprünglich ein Waldgebiet – wurde gerodet.

Er war um ein Vielfaches größer als der Leppiner. Auf den Ort Schillersdorf fielen 1936 die ersten Bomben.

BOMBENPLÄTZE LEPPIN UND SCHILLERSDORF

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Dann baute man auf dem Territorium des ehemaligen Dorfes eine „Stadt Klein-Berlin“ auf. Es war eine-Attrappe. In der Nähe entstand eine „Autobahn“. Die Erhebung im Hintergrund wurde aufgeschüttet. Diese Attrappe ist etwa 300 Meter lang.

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Eine weitere Attrappe war die „Hochspannungsleitung“. Hier probten die Piloten das Überfliegen mittels eines Drahtseiles, an dessen Ende sich eine Kugel befand. Mit ihr sollte die Leitung zerstört werden. Auch Hanna ReitSch unternahm hier solche Versuche. In diesem Gebiet befanden sich 3 B-Türme. Der Schillersdorfer war etwa 25 Meter hoch und besaß einen Durchmesser von ca. 8 Meter. An Schafen probierte man die Wirkungen der Bomben auf diese Türme aus. Sperrte man auch Menschen in sie ein? Waren auch Ärzte an diesen Versuchen beteiligt? Fragen, die sich Einheimische stellen.

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Zwei Auswertehäuschen und das Zentrale Auswertehaus lagen auf diesem Bombenplatz. Die Einheimischen erzählen sich eine kleine Anekdote. Sie soll wahr sein.

Nach erfolgten „Bombeneinsätzen“ auf den beiden Plätzen, fanden in den Auswertehäusern Einschätzungen statt. Die Ergebnisse feierte man selbstverständlich.

Der täglich zwischen dem Berliner Luftfahrtministerium und Rechlin verkehrende Kurierzug brachte „Freudenmädchen“ mit. Das Kurierflugzeug Hohe Welt/München Rechlin ladete „Hofbräu-Bier“ und ein weiteres aus Bordeaux landete in Rechlin mit dem weltbekannten gleichnamigen französischen Wein. Es waren „scharfe Nächte“.

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lm Jahre 1933 entwickelten die Ingenieure Achler, Rück, Biehl und der Techniker Willi Buss den Fallschirm für den militärischen Einsatz. Eigens zur Prüfung und Erprobung schuf man eine Sondererprobungsstelle im Gebiet zwischen Qualzow und Granzow.

Nun sah man in Rechlin Fallschirmjäger. Die Junkers Ju-52 flog mit ihnen über den gerodeten Wald. Der Massenabsprung wurde geübt. Biehl und Buss als auch Richard Kohnke als alter Fallschirmpionier waren oft als die zuständigen Fachleute während der Erprobungen hier.

Zwischen Schillersdorf und Qualzow entstand das Erprobungsgebiet für Lufttorpedos. Auf einer Betonplatte „schwamm“ ein Schiff- natürlich als Attrappe. Die Häuser störten beim Anflug. Qualzow wurde geschliffen.

Beide Bomben- und Erprobungsgebiete stellten ein Gefahrenpotential dar. Eine Kontrolle des Gebietes war unumgänglich geworden, da es immer wieder vorkam, daß die Sicherheitsbestimmungen, in den gekennzeichneten „blauen“ und „gelben“ Zonen von Pilz- und Beerensuchern, auch von Neugierigen, nicht beachtet wurden.

Die E-Stelle Rechlin bildete eine Reiterstaffel.

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Sie bestand aus 15 bis 20 Soldaten mit 12 Reitpferden. Tag und Nacht, rund um die Uhr, ritt die wachhabende Gruppe das Territorium ab. Ihr Sitz befand sich in dem neben dem Gutshaus Retzow liegenden Wirtschaftsgebäude.

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LIEGENSCHAFTEN DER ERPROBUNGSSTELLE RECHLIN
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In gleichem Tempo entstand im Anschluß des Ortes Vietzen von 1934 bis 1939 eine völlig neue Siedlung gleichen Namens.

Ein- und Zweifamilientypenhäuser gaben dem Landstrich das Gepräge. Bis zum damaligen „Hindenburg-Platz“ wurden sie verputzt, die dahinterliegenden verblendet.

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Die Flugzeugingenieure entwickelten schwerere und schnellere Kampfflugzeuge.

Mitte 1935 wurde mit dem Bau des Flugplatzes Lärz begonnen. Er erhielt zwei sich kreuzende Betonbahnen von 3 km Länge und die für einen modernen Flugplatz erforderlichen Anlagen und Ausrüstungen. Bis 1941 war die Start- und Landebahn bis zur Landstraße Retzow-Lärz fertiggestellt.

Sie mußte jedoch verlängert werden~ Auch eine Vielzahl von Versorgungsleitungen waren zu verlegen. So die bereits beschriebene Treibstoffpipeline von der Abteilung Süd zum Flugplatz Lärz, von der Abteilung Süd zu anderen Einrichtungen innerhalb des Ringes sowie nach Roggentin mit einer Länge von ca. 7 km. Mehrere Pumpen wurden dazwischengeschaltet.

Bis 1935 waren etwa 1300 Bürger aus den Dörfern ausgesiedelt. 1939 umfaßten die Liegengchaften der E-Stelle Rechlin 6139 Hektar. Ein Jahr später arbeiteten hier ca. 4000 Militär- und Zivilangehörige.

3. Rechlin – „Waffenschmiede“ der Deutschen Luftwaffe

Der Luftwaffe wurde das strategische Ziel gestellt, unter Ausnutzung des Überraschungsmomentes, bereits zu Beginn eines Krieges die Luftherrschaft zu erringen. Blitz- und überfallartig sollte sie ihn eröffnen.

Alles war dieser Aufgabe untergeordnet und jedes Mittel war der Führung recht.

Ab Oktober 1935 führte die Luftwaffe die „Großflugtage“, natürlich in Rechlin ein.

Jung und Alt staunte über die Vielzahl der Sport- und Kampfflugzeuge, die über den Himmel der Müritz dahinbrausten. Die Piloten führten wahre Kapriolen aus. Ernst Udet und Robert von Greim interessierten sich jedoch nur für die Kampftechnik.

Die Deutsche Luftwaffe brauchte einen Standardjäger. Vorgeführt wurden die Heinkel He-112, Arado Ar-80, Focke-Wulf Fw-159 und die Messerschmitt Bf-109.

5_Kapitel-IV_Bild-32.jpg Der Generalluftzeugmeister Ernst Udet und der Ritter Robert von Greim entschieden sich für das letzte Muster.
5_Kapitel-IV_Bild-33.jpg General Ernst Udet
5_Kapitel-IV_Bild-34.jpg General Robert Ritter von Greim

Udet trat auf Drängen von Göring in die Luftwaffe ein. Seit 1935 im Reichsluftfahrtministerium und ab 1936 Chef des Technischen Amtes der Luftwaffe, war er für die Neubeschaffung von Flugzeugen verantwortlich.

Von Greim besaß seit dem Hitlerputsch von 1923 engste Beziehungen zur nationalsozialistischen Führungsspitze. Im zweiten Weltkrieg war er Befehlshaber über das 5. Fliegerkorps, später der 6. Luftflotte und am 19. April 1945 wurden ihm alle verbliebenen Fliegerkräfte unterstellt. Er wurde der letzte Oberbefehlshaber der Deutschen Luftwaffe. Im Frühjahr 1936 fand wiederum ein Vergleichsfliegen auf den Rollfeldern Rechlins statt.

Zur Auswahl standen die Heinkel He-45, He-70, He-111 und He-118,die Junkers Ju-86 und der Sturzkampfbomber Ju-87, die Focke-Wulf Fw-58 die Arado Ar-81, die Blohm & Voss-Ha-137 und die Henschel Hs- 123. Die Kommission entschied sich für den leichten Bomber He-111 und die Ju-87, auch „Stuka“ genannt. Wenig später lief der Serienbau beider Flugzeugmuster an.

5_Kapitel-IV_Bild-35.jpg Junkers Ju-87 5_Kapitel-IV_Bild-36.jpg Heinkel He-111

Das Zusammenspiel zwischen der Industrie und der E-Stelle funktionierte bestens. Die Rechliner Piloten waren Könner ihres Faches. Die modernste Flugtechnik entstand auf den Reißbrettern, in den Hallen der Hersteller, nach den Gutachten der Rechliner.

In Deutschland entstand eine Fliegertruppe, die auf ihre Luftflotte stolz war. Es schien, als könne sie die ganze Welt besiegen.

Plötzlich war er da, dieser Tag, der Tag der Bewährung. Am 18. Juli 1936 bricht in Spanien der Bürgerkrieg aus. Deutsche Panzerkreuzer werden entsandt, um die in Spanien lebenden Deutschen zu „schützen“. Passagierschiffe der „Kraft durch Freude“ Organisation (KdF) und Transportflugzeuge Ju-52 befördern im Verlauf des Krieges etwa 6000 deutsche Spezialisten und Berufssoldaten, Geschütze, Munition und weiteres Kriegsmaterial in die umkämpften Gebiete. Bereits am 27. Juli startete die erste Ju-52 nach Spanien. Die schnell aufgestellte „Legion Condor“ unter Leitung von Generalmajor Speer und seines Stabschefs Wolfram von Richthofen, probt nun die in Rechlin geprüfte Flugtechnik. Die He-111 und Ju-87 zerrissen mit ihrer Bombenlast die Leiber der Menschen und ihre Wohnhäuser in Guernica, Madrid und Barcelona.

5_Kapitel-IV_Bild-37.jpg Die Ruinen von Guernica

An den Steuerknüppeln der etwa 600 He-45, 46, 51, der Me-109 und vieler weiterer Muster saßen Piloten wie Hans Seidemann, Hermann Plocher, Adolf Galland, Hannes Trautloff und Werner Mölders. Sie rasten im Tiefflug über die Felder, Seen und Straßen, drückten mit Daumen auf die Feuerknöpfe und hämmerten die Magazine ihrer Maschinengewehre leer. Tausende Tote hinter sich lassend.

Viele Erkenntnisse brachte der Spanienkrieg.

In den Instituten der Universitäten, der Forschungseinrichtungen sowie der Deutschen Akademie für Luftfahrtforschung gingen die Wissenschaftler mit Begeisterung an die Arbeit. Ebenso wetteiferten die jungen Lehrlinge, die Männer am Amboß, am Hochofen und an den Werkzeugmaschinen. Bauarbeiter und Architekten, Ingenieure und Techniker waren stolz auf das, was sie schafften. In der Flugzeugindustrie und im Motorenbau sowie in den Fabriken, die Flughilfsgeräte herstellten, wurde Tag und Nacht gearbeitet. Alle vollbrachten Spitzenleistungen.

Deutschland entwickelte sich zum führenden Land in der Luftfahrttechnik. Maschine auf Maschine rollte zum Start. Aus Ketten wurden Staffeln. Aus Staffeln wuchsen Geschwader. In Rechlin spiegelte sich dieses Konzert wieder. Nicht nur die erbauten Flugzeugmuster sah man hier. Auch deren Konstrukteure waren Gast der Flugvorführungen.

5_Kapitel-IV_Bild-38.jpg Ernst Heinkel mit den Leitern seines Projektbüros Walter und Siegfried Günter und dem Technischen Direktor Heinrich Hertel. (I.n.r.)

Rechlin nannte man auch die „Waffenschmiede der Luftwaffe“.

Hier sah man Sensationen des deutschen Flugzeugbaus.

Bereits im Dezember 1936 begannen die Projektarbeiten für die Heinkel He-176, dem ersten „Raketenflugzeug“ der Welt.

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Versuche und der Bau von Raketenantrieben Wernher von Brauns erfolgten streng geheim in einer Baracke am Warnow-Ufer in Rostock-Marienehe. Der Rumpfdurchmesser der He-178 betrug maximal 86 cm in Höhe der Flügelvorderkänte. Der Rumpf war etwa 6 Meter lang. Der Pilot lag halbliegend im Bug. Neu war, daß die Kanzel im Notfall als Ganzes abgeworfen werden konnte. Der Antrieb des Triebwerkes erfolgte mittels flüssigem Sauerstoff und Alkohol. Dieses Muster entspräch nicht dem „Geschmack des Führers“.

Der Genera!fiugzeugmeister Ernst Udet verfügte am 12.09.1939 das Ende der Arbeiten an diesem Flugzeug.

Auch 1936 entwarfen die Rostocker Heinkei-Konstrukteure die Heinkel He-178, das erste Flugzeug der Welt mit Strahltriebwerk.

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Am 27. August 1939 fand der Erstflug statt, der erfolgreich verlief.

Im Jahre 1937 erhielt Focke-Wulf den Auftrag, ein Flugzeug mit einer dreiköpfigen Besatzung, beste Sichtverhältnisse und einer Rundum-Verteidigung zu konstruieren.

Unter Aufsicht des Technischen Leiters Kurt Tank, entstand bereits 1936 ein Doppelrumpf-Flugzeug. Am 23. Juli 1938 flog Kurt Tank die „Fw-189“ ein. Das Flugzeug konnte sogar im Kunstflug vorgeführt werden. Das zweite V-Muster diente vornehmlich der Waffenerprobung, das dritte Bahneignungsflüge und Trudelversuchen mit verschiedenen Schwerpunktlagen.

Alle drei V-Muster wurden an der E-Stelle Rechlin in die Dauererprobung genommen.

Die V-4 diente der Erprobung der Funkanlage. Auch die Kameraausstattung (Handkamera und Reihenbildgerät) durchliefen die Stationen in Rechlin.

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Mit der Arado Ar-79 gelang den Konstrukteuren 1937 ein großer Wurf. Es wurde eines der fortschrittlichsten Sport- und Schulflugzeuge.

4. Die „große Fürsorge“ von Hitler – Göring – Speer war Rechlin immer gewiß

Im Herbst 1937 fanden Manöver der deutschen Wehrmacht statt, in denen der Landkreis Waren einbezogen war. Erprobt wurde der Einsatz konzentrierter Verbände der Land- und Luftstreitkräfte. Hitler beobachtete in der Nähe von Marxhagen Angriffsübungen eines großen Panzerverbandes.

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In Vollrathsruhe befand sich das Hauptquartier. Gauleiter Hildebrandt erwartete Hitler. Plötzlich erschienen Jagdflugzeuge über den Ort. Sie kamen aus Rechlin. Eine Art Phosphorbombe sollte auf dem Gutshof abgeworfen werden. Sie fiel unglücklicherweise auf den 1000er Schafstall. Graf Thiele von Winckler, der Gutsherr, befand sich in der Tatra auf Bärenjagd. Der Gauleiter forderte die Bestrafung des Piloten, der Graf Schadenersatz. Der Pilot erschoß sich in Rechlin. Auf dem Gut entstand ein moderner Klinkerbau.

Hitler nahm in Rechlin an den Übungen von Luft- und Fallschirmtruppen teil. Zum ersten Mal wurde der Rundkappenschirm RZ-1 als Rückenfallschirm eingesetzt. Eine Kompanie Fallschirmjäger unter der Leitung von Oberleutnant Pelz sprang in der Region ab.

In Wittstock befand sich eine Fallschirmjägerschule. Hier erlernten die jungen Soldaten die Theorie, in Rechlin die Praxis. Wer den Mut zum ersten Sprung nicht aufbrachte, mußte in Unterhosen vor die Kompanie treten und rufen: „Ich bin ein feiges Schwein.“

Am 1. Juli 1938 übernahm Generalmajor Kurt Student die Führung der Fallschirmtruppe. Hans Jakobs konstruierte den Lastensegler DFS-230. Er wurde in diesem gleichen Jahr erprobt. Eine Ju-52 schleppte den Großsegler, der neben dem Piloten bis zu acht vollbewaffnete Soldaten trug. Unter strengster Geheimhaltung wurde ein Muster von Hanna Reitsch hinter einer Ju-52 geflogen.

Zum Manöver 1938 sahen die Warener den „Führer“ wieder. Diesmal in Begleitung des italienischen „Duce“. Vor dem Stadthaus in der Gievitzer Straße besichtigten sie die errichtete Panzersperre. Eine Pak schoß in Richtung-Osten.

Am 3. Juli 1939 besuchte Hitler in Begleitung von Hess, Göring, Bormann, Keitel, Jodl und Jeschonnek die E-Stelle Rechlin. Der Sonderzug lief auf dem Bahnhof Rechlin/Nord ein. Alles was Beine hatte, wurde hierher geschickt. Schüler, Pimpfe, Jungmädchen, Hitlerjugend, der Arbeitsdienst und die Arbeitsmaiden, nicht zuletzt die Angehörigen der E-Stelle, standen wie gebannt da. Ein blondes Mädchen begrüßte Hitler mit einem Blumenstrauß und einem artigen Knicks.

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Der Flugplatz Roggentin bot eine Generalschau der Flugtechnik. Udet war der Intendant. Die neuesten Flugzeugmuster sah man hier. Es war die „Messerschmitt“ Me-209 und Me-262. Sie stand hier noch als Attrappe.

Die „Heinkel“ He-110, He-112 und He-176 brausten über die. Köpfe der Zuschauer. Vorgeführt wurden die Bekämpfung von Schiffszielen durch Flugzeuge, der Abwurf von Luft

minen auf Schiffe, das X-Peilverfahren, die Wirkung von SD-500-Bomben auf Panzerkampfwagen sowie die von Ernst Heinkel und seinem Ingenieur Oheim entwickelten Strahltriebwerke. Für die perfekte Luftraumüberwachung demonstrierte man das Radarerkennungsgerät „Drehbake“.

5_Kapitel-IV_Bild-45.jpg Empfang des „Führers“ auf dem Bahnhof Rechlin-Nord 5_Kapitel-IV_Bild-46.jpg 5_Kapitel-IV_Bild-47.jpg 5_Kapitel-IV_Bild-48.jpg

Die Vernichtungswirkung der Luft-Boden-Raketen und der 30-mm-Fliegerkanonen MK 101, die entwickelten Frühwarnsysteme sowie Höhendruckkabinen hinterließen den gewünschten Eindruck.

Diese Generalschau der Luftwaffe stellte sich so dar, daß sie allen anderen Ländern weit überlegen war. Die beiden Grasrollfelder, Rechlin und Roggentin, waren für die neue Generation von Kampfflugzeugen völlig ungeeignet.

Es wurde das „Erprobungskommando Lärz“ an der E-Stelle Rechlin geschaffen. Dieses Kommando erhielt nunmehr die Vor- und Nullserienmuster aller Kampfflugzeuge zur Einsatzerprobung zugewiesen.

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Mitte 1935 wurde bereits mit dem Bau des Flugplatzes Lärz begonnen, reichte aber nicht in der Größe und Ausstattung diesen Anforderungen. Mit Hochdruck wurden zwei sich kreuzende Betonbahnen von 3 km Länge gebaut. Die erforderlichen Meßbasen, Beobachtungstürme, Peil- und Antennenhäuser, Bunker und Tankanlagen entstanden.

59 Tage nach dem Besuch Hitlers in Rechlin brach der Zweite Weltkrieg aus.

Am 1. September 1939, 4.45 Uhr eröffnet das deutsche Linienschiff „Schleswig-Holstein“ das Feuer auf die polnische Westerplatte. Bereits um 4.26 Uhr und um 4.45 Uhr starten als erste Kriegsflugzeuge Staffeln und Gruppen der Ju-87 in Richtung Krakau.

Um 10.00 Uhr erklärt Hitler vor dem Reichstag: „Seit 4.45 Uhr wird zurückgeschossen“.

Das große Morden begann.

1940 marschieren deutsche Truppen in Holland, Belgien und Luxemburg ein. Frankreich unterzeichnet den Waffenstillstand. Am 13. August beginnt der verschärfte Luftkrieg gegen England. Das Unternehmen „Weserübung“ zur Besetzung von Dänemark und Norwegen wird ausgelöst. Deutschland steht im Siegestaumel. Immer modernere Kampfflugzeuge sehen die Prüfstationen in Rechlin.

Die „Heinkel“ He-177 brauste über das Rechliner Rollfeld. 1938 aus der Taufe gehoben, wollte Udet aus ihr einen sturzflugfähigen Fernbomber machen. Äußerlich glich es einem zweimotorigen Flugzeug. Praktisch war es ein viermotoriges, da die Maschine mit zwei Triebwerken auf einer Luftschraube lief.

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Es war ein Dienstag im wunderschönen Monat Mai 1940 Um 13.10 Uhr ruft der Funker von Bord der He-177 den Sender Boek: „Hier GI+BW Peenemünde im Anflug.

Bitte um Landeerlaubnis.“ Es dauert nur Sekunden. „Landeerlaubnis erteilt“, war die Antwort der Funkleitzentrale. 10 Minuten später überfliegt der modernste schwere Bomber, der für Höhenflüge ausgelegt war, die Müritz und dann das Roggentiner Rollfeld. Er zieht über Lärz eine Kurve und setzt zum Landeanflug an.

Noch eine Sensation erlebt Rechlin. Prof. Henrich Focke gründete 1937 unter Mitarbeit des Kunstfliegers Gerd Achgelis ein Flugzeugwerk. Nach-langen Studien und Versuchen entsteht der erste erfolgreiche Hubschrauber der Welt. Die „Fa-61“ holt alle Weltrekorde nach Deutschland. Hanna Reitsch führte dieses Muster in der geschlossenen Deutschlandhalle vor.

Das nächste Muster, die Fa-223 „Drachen“, wurde am 22. Oktober 1940 nach Rechlin überführt. Am 28. Oktober erreichte er hier eine Höhe von 7090 Meter, am 30. Oktober auf einer 275 km langen Strecke eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 180 km/h.

Ein Hubschrauber kam während des Krieges nicht mehr zur Einsatzreife.

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Im Reichsluftfahrtministerium (RLM) dachte man ernsthaft an einen modernen Nachfolger der „Junkers“ Ju-52.

Bereits im Feldzug gegen die Niederlande machten die Transportflieger böse Erfahrungen. Alle Flugfelder waren durch die Verteidiger unbenutzbar gemacht, indem sie quer über diese Gräben pflügten. Die Fahrwerke der Ju-52 waren diesen Bodenbeschaffungen nicht gewachsen.

Ab Dezember 1940 entstand unter Walter Blume die Arado Ar-232 mit dem bezeichnenden Namen „Tatzelwurm“.

5_Kapitel-IV_Bild-52.jpg 5_Kapitel-IV_Bild-53.jpg

Bereits am 27. März 1941 begann durch die E-Stelle Rechlin die Attrappenbearbeitung.

Am 3. September 1942 wurde das Flugzeug auf dem mit Gras bewachsenen Rollfeld Roggentin vorgeführt. Der Einsatz dieses Musters erfolgte u.a. in Stalingrad. Eine dieser Maschinen war die letzte, die aus dem Kessel herauskam.

Am 17. November 1941 begeht Udet Selbstmord, nachdem er für das Scheitern der Luftschlacht um England vor allem von Hitler und Göring verantwortlich gemacht worden ist. 2265 Maschinen verlieren die deutschen Verbände seit Beginn der Aktion im August 1940. Die Luftherrschaft wurde nicht errungen.

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Am 22. November findet in Berlin das Staatsbegräbnis für Ernst Udet statt.

Die Kampfmoral der Truppe mußte erhalten bleiben. Auf vielfältige Weise tat das Goebbels. Der „Großdeutsche Rundfunk“ strahlt das „Wunschkonzert für Euch an allen Fronten“ aus. Die Hörer wünschten sich häufig Melodien aus den Musikfilmen der Zeit. „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“, das meistgewünschte Lied wird jedoch „Heimat, deine Sterne“. Lale Andersen singt „Lili Marleen“, den populärsten Schlager des Zweiten Weltkrieges, und Zarah Leander „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ sowie „Davon geht die Welt nicht unter“. Zum 25. Jahrestag der UFA, der größten deutschen Filmgesellschaft, wird der Film „Münchhausen“ mit dem Hauptdarsteller Hans Albers uraufgeführt. „Die Menschen sind mit heiteren Filmen abzulenken“, meinte der Propagandaminister zu dem amüsant-ironischen Farbfilm.

Rechlin bekam auch seine Uraufführung, bereits 1939. Filmleute zogen ein, an ihrer Spitze Karl Ritter, UFA-Spitzenregisseur. „Pour le merite“, der Großfilm wurde hier inszeniert.

Er wandte sich an die, die einst für den Kaiser den ~Platz an der Sonne“ erkämpfen sollten. Auch jetzt brauchte man die alten Kämpfer, wenn es um die Eroberung Europas ging. Der Film glorifizierte die Taten der Jagdflieger des Ersten Weltkrieges wie Manfred von Richthofen und Ernst Udet. Er erzählt vom Leben und Kampf eines solchen Fliegers, der im Nationalsozialismus endlich wieder Soldat sein kann.

Im Kinosaal des Ellerholzer Kasernenviertels sitzen die Feuerwehrleute, die Horstkompanie, darunter der Gefreiter Heinz Rühmann, hier leistet er seine Wehrpflicht ab, und anderes Rechliner Personal.

5_Kapitel-IV_Bild-55.jpg Heinz Rühmann in dem Film „Quax der Bruchpilot“

In Rechlin wird noch ein Film gedreht: „DIII-88“, ein Film der deutschen Luftwaffe.

Er schlägt die Brücke zwischen dem Geist von 1918 zum wiedergekehrten Frontgeist.

So trug die E-Stelle dazu bei, das Ziel der Nazi-Propaganda zu erreichen:

„Wir wollen die Menschen so lange bearbeiten, bis sie uns verfallen sind“.

Die Niederlagen an der Ostffont machten der deutschen Wehrmacht schwer zu schaffen. Stalingrad, Moskau, Kursk und die Luftschlacht am Kuban im Jahre 1943 führten zu schwersten Verlusten. Seit diesem Jahr fanden in Rechlin regelmäßige taktischtechnische Übungen statt:

  • am 13. März unter dem Thema „Bekämpfung geschlossen fliegender Bomberverbände und Intensivierung des Luftkrieges gegen England“.

In einer anschließenden Lehrvorführung „bekämpften“ Jagdflugzeuge einen viermotorigen amerikanischen Bomberverband. Als Ziel diente ein im Oktober 1942 in Rechlin zusammenge - bauter „B- 17“ Bomber.

  • am 8. April 1943 führte man den Einsatz chemischer Kampfstoffe, deren Absprühen und den Bombenabwurf, vor.
  • am 20. Juli 1943 holte Milch sämtliche Minister und Staatssekretäre sowie alle Gauleiter nach Rechlin. Die neuesten Mittel der Luftverteidigung demonstrierte er ihnen.
5_Kapitel-IV_Bild-56.jpg Speer und Milch

Der Rüstungsminister Albert Speer (im Bild links) berief im September 1943 eine Rüstungstagung nach Rechlin ein. Führende Vertreter der Industrie, deren Konstrukteure und Techniker waren hier.

Bei dieser Gelegenheit führte man noch schnell die neusten Warfen der Luftwaffe vor.

Dazu gehörte auch die „Arado“ Ar-234. Sie startete als erster „Strahlbomber“ der Welt. 1940/41 in Babelsberg entworfen, gelang der Erstflug auf Anhieb.

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Die ersten Typen starteten mit einem abwerfbaren Rollwagen. Die V9 verfügte dann bereits über ein einziehbares Fahrwerk und erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 900 km/h. Zwei Starthilfsraketen erhöhten die Startgeschwindigkeit. Ein Bremsfallschirm verringerte die Landestrecke auf rund 860 Meter.

Die „Messerschmitt“ Me-262, der erste in Serie hergestellte Düsenjäger der Welt sieht die Prüfstationen in Rechlin am 10. Juni 1944.

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Zur Erprobung der nach Lärz überstellten Maschinen wurden 30-40 Piloten ausgewählt. Sie bildeten die „8. Staffel“ und erprobten nunmehr die Me-262.

Unter ihnen befand sich auch die bekannte Testpilotin Hanna Reitsch.

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Für diese Staffel wurde in Neu Gaarz Quartier gemacht.

KZ-Häftlinge aus Retzow errichteten bereits 1943 vor dem Ort 2 Baracken. Neben den 3 km langen Landweg nach Lärz hatten sie ein Erdkabel zu verlegen.

Auch ein moderner Gefechtsstand entstand hier.

„Fliegerhorst Gaarz“ war der nunmehrige Name von Neu Gaarz.

Die Me 262 war zunächst den alliierten Flugzeugen an Schnelligkeit und Wendigkeit überlegen. Durch ihre geringe Tragfähigkeit und des damit verbundenen begrenzten Treibstoffes konnten sie sich nur 30 min. in der Luft halten. Beim Landen waren sie wehrlos.

Zu ihrem Schutz brachte man deshalb unter den Kronen der Weiden und Pappeln, die den Landweg von Gaarz nach Lärz zierten, 10 Vierlingsflak und schwere Maschinengewehre in Stellung.

5. Test und Erprobung ohne Gnade - stets fliegt der Tod mit

Es liegt in der Natur der Dinge. Erprobungen bringen Fortschritte als auch Rückschläge mit sich. Dabei kommen Menschen zu Ehren oder lassen dabei ihre Gesundheit.

Gar mancher riskiert sein Leben. Das war auch in Rechlin so. Die Männer, gleich wo sie ihren Platz einnahmen, besaßen ein fundamentales Wissen in ihrem Fach.

Sie prüften, experimentierten und gaben ihre Erkenntnisse weiter. Dafür wurden sie gelobt, ausgezeichnet und befördert. Sie besaßen Mut und Disziplin. Es waren Männer, die stets bereit waren, ihr Können zu beweisen. Unter Einsatz ihres Lebens. Sie schafften es, modernste Kampfmaschinen bereitzustellen. Sie glaubten fest daran, einer guten Idee zu dienen. Dieser stete Kampf um hohe Qualität forderte auch seine Opfer.

Der 32-jährige Pilot, Dr. ing. Karl Theodor Bienen, war der erste Tote. Sein Flugzeug stürzte am 12. Oktober 1927 über Kotzow brennend ab und zerschellte am Boden.

Bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges lassen weitere 18 Versuchspiloten und Besatzungsmitglieder, die im Raum Rechlin seßhaft geworden sind, ihr Leben während Flugerprobungen. Unter ihnen befinden sich so bekannte Flieger wie Paul Adolf Viktor Bockow und Freiherr von Morau.

Am 8. November 1939 macht eine „Focke-Wulf“ Fw-189 auf der zugefrorenen Müritz infolge Höhenruderbruch eine Bauchlandung. Die Besatzung kommt mit dem Schrecken davon. Eine Me-109 startete auf eine Höhe von 9000 Meter und geht in den Sturzflug über. Der Pilot kann sie nicht mehr auffangen. Nur noch Reste von Mann und Maschine sind zu finden. Glücklicher ist der Pilot einer Ju-87. Das Triebwerk fängt beim Sturzflug Feuer. Mit dem Fallschirm kann er sich retten. Die Versuchsflüge mit dem schweren Bomber He-177 verlaufen nicht problemlos. Im November 1939 fliegt eine Maschine das Rollfeld Roggentin an. Der linke Motor brennt. Bei der Landung knickt das Fahrgestell ein. Die Tragflächentanks geraten in Brand. 5 Besatzungsmitglieder verbrennen lebendigen Leibes in der Maschine. Der Kalender zeigt den 12. Februar 1943. Ein Pilot erhält den Auftrag, eine Vollgaserprobung mit der Me 262 zu fliegen. Nach 14 Minuten stürzt die Maschine im Senkrechtflug in das Bombengelände Leppin. Schrott und Asche blieben übrig. Im Herbst 1944 klinkt das Schlepperflugzeug das Seil eines Lastenseglers aus. Die Steuerung des Seglers gehorcht nicht, die Flügel brechen ab. Der Pilot kommt besinnungslos auf der Erde an. 5 weitere Mitinsassen sahen die Erde nur tot wieder.

Sie starben bei Sturzflugversuchen und der Vollgaserprobung, wie bereits an Beispielen beschrieben. Sie konnten infolge Brandes ihre Maschine nicht mehr verlassen. Sie stießen auf der Rollbahn, wie z.B. 2 He-111 in Lärz oder in der Luft zusammen.

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In den letzten Kriegstagen startete in Rechlin ein „Dornier-Versuchsflugboot“ und stürzte kurz danach in der Nähe des Großen Schwerin, am Zähner Lank, in die Müritz. Es wird vermutet, daß das Flugboot überladen war, das Gewicht Sich verlagerte, welches den Absturz herbeiführte. Im Jahre 1990 wurde das Wrack geborgen.

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Auf den Bildern sehen wir den Rumpfbug, eine Einsicht in das gut erhaltene Cockpit mit seiner Instrumententafel und dem Pilotensitz.

Die in 9 Kisten-lagernden Sätze zur Magnesiumgefechtsfeldbeleuchtung waren noch nach 50 Jahren voll funktionsfähig.

In den Kriegsjahren 1939 bis 1945 verunglückten weitere 57 seßhafte Rechliner bei Versuchsflügen über und im Territorium der E-Stelle.

16 Männer starben den „Heldentod“ bei Luftkämpfen über dem Landkreis Waren.

Allein 8 Piloten des Jagdauffanggeschwaders „Schneewerdingen“ starben am 5.12.

1944 bei einem Luftgefecht im größeren Raum von Rechlin. Ein alliiertes Bombengeschwader flog einen Angriff auf Berlin.

Alle diese 92 Piloten und Besatzungsmitglieder waren in der Halle Ost des Rollfeldes Rechlin in einem Zinksarg aufgebahrt.

Mit militärischen Ehren überführte man die Toten in ihre Heimatorte.

Andere bestattete man auf dem Friedhof zu Retzow, wie es dieses Bild zeigt.

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Zu der Zeit waren es „Heldentaten“. Aber unerbittlich rollte die Walze des Krieges über sie hinweg.

Nur die Mutter oder junge Ehefrau trug den Schmerz des Verlustes.

V. Vernichtung von Menschen durch Arbeit die grausame Geschichte des Nebenlagers des Frauen-KZ Ravensbrück in Retzow

1. Der Aufbau des Barackenlagers in Retzow

1939 waren die Ansprüche an Ausmaße und Qualität von Anlagen auf dem Lärzer Flugplatz durch die Leitungen der Luftfahrtindustrie und der Luftwaffenerprobung gestiegen. Es war abzusehen, daß mit den im Raum Rechlin ansässigen Arbeitskräften die geforderten Aufgaben nicht zu bewältigen waren.

Im Herbst 1939 begann der Bau eines Barackenlagers für die Unterbringung eines, wie es hieß, Luftwaffenbaubataillons. Sie besaßen die gleiche Aufgabe, wie Pioniereinheiten beim Heer.

Das Barackenlager lag an der Abzweigung Einfahrt Retzow von der B 198 rechts vor dem Retzower Park. Es bestand aus 12 Baracken. 4 standen parallel mit der Dorfstraße.

4 standen zum Park und 4 weitere zur B 198 hin. In der Mitte war ein freier Platz von 100 mal 100 Meter. Zur Ostseite erstreckte sich die Wirtschaftsbaracke mit Küchen, Aufbewahrungsräumen, einem Heizwerk und einem recht geräumigen Versammlungsraum, Kinosaal genannt. Die Versorgung mit Strom und Wasser erfolgte durch das öffentliche Netz. Die Entsorgungsanlage für Wasser wurde für das Lager direkt gebaut.

7_Kapitel-V_Bild-1.jpg Auf diesem Bild sehen wir die Baracken Nr. 4, 8, 9 und 10 und den Feuerlöschteich während des Aufbau des Lagers.

Das Lager bot Unterbringung und Versorgung für 1200 Männer. Für das Lärzer Rollfeld lag es sehr günstig, nur etwa 200 Meter vom Nordeingang entfernt.

Das für die Belegung vorgesehene Baubataillon kam nicht mehr. Es hieß, daß es zum Feldzug gegen Frankreich eingesetzt und dort stationiert wurde. An ihrer Steile kamen 1940/41 Einheiten des Reichsarbeitsdienstes.

Anfang 1941 bis Ende 1942 wurden die meisten Räume mit italienischen Arbeitskräften belegt. Es waren Gastarbeiter. Sie hatten es sehr schwer, sich an die nicht leichten Arbeitsverhältnisse und die hiesigen Lebensgewohnheiten zu gewöhnen. Trotzdem besaßen sie viele Freiheiten und ihre Verpflegung war relativ gut. Sie durften Kontakt zu der hiesigen Bevölkerung pflegen und hatten eine eigene Vertretung gegenüber den deutschen Behörden.

2. Die Vernichtung des Menschen durch Arbeit wird Tag für Tag verwirklicht

Die Arbeitsbedingungen wurden immer schwerer. Die Anlage der Start- und Landebahn verlangte sehr viel Erdarbeiten. Zwar wurde der Kies und Füllboden mit den bekannten Feldbahnen transportiert, das Auf- und Abladen wurde aber durch Handarbeit durchgeführt und verlangte sehr viel Kraft. Neben diesen Arbeitskräften waren ständig Besatzungen deutscher Kampfgeschwader im Barackenlager untergebracht.

Sie führten praxisnahe Luftwaffenerprobungen durch.

Im Winter 1942/43 wurde das Barackenlager geteilt. Die 4 zur Haupttrasse gerichteten Baracken trennte man aus dem Komplex heraus. Die 4 Baracken, die parallel zur Dorfstraße standen, wurden als Unterkünfte für SS-Wachmannschaften reserviert.

Die restlichen 4 Baracken wurden zusammen mit der Wirtschaftsbaracke und dem Fahrzeugdepot durch elektrischen Stacheldrahtzaun eingezäunt. An allen vier Himmelsrichtungen standen Schützenbunker zur Sicherung des Lagers.

Im Frühsommer 1943 wurde dieses, nun offensichtliche Konzentrationslager mit Männern, höchstwahrscheinlich aus Ravensbrück, belegt. Die Belegungsstärke schwankte zwischen 1200 bis 2000 Häftlinge. Diese Männer wurden zum größten Teil bei den Erdarbeiten auf dem Lärzer Flugfeld eingesetzt. Dort hatte sich herausgestellt, daß die bis dahin gebaute Startbahn zu kurz wurde und verlängert werden mußte. Planierungsarbeiten in großem Maße waren erforderlich. Die Männer des KZ wurden mit roher Gewalt zur Arbeit getrieben und angetrieben. Das Verhältnis zwischen den Häftlingen und den Aufsehern, Angehörigen der SS, war sehr hart. Es kam oft zu groben Schikanen. Ein Kontakt mit Außenstehenden wurde in jedem Fall unterbunden. Der Arbeitstag war 10 – 12 Stunden lang. Die Verpflegung und ärztliche Betreuung war noch so; daß es zu „relativ“ wenig Todesfällen kam.

Parallel dazu wurde in der Kotzower Gemarkung eine Grube mit hochwertigem Kies erschlossen. Von hier wurden Feldbahnen zur Ostseite des Lärzer Flugplatzes und nach Rechlin verlegt.

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Auf dem Lärzer Flugplatz wurde der Kies zum Bau eines Flugzeugbunkers verbraucht. In Rechlin deponierte man ihn. Es waren in jedem Fall schwere Arbeiten. Das Tempo wurde verschärft, je länger der Krieg dauerte. Anfang Juli 1944 wurden die Männer verlegt.

Nun begann das Verbrechen.

Am 9. Juli 1944 wurde das Lager mit weiblichen Häftlingen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück belegt. Seit diesem Tag setzte sich in Retzow mehr und mehr das faschistische Prinzip „Vernichtung von Menschen durch Arbeit“ durch. Das Wachpersonal wurde zum Teil durch Angehörige des Landsturms ersetzt. Es kam dadurch zu weniger offenen Drangsalierungen. Insgesamt aber verschlechterten sich die Verhältnisse von Tag zu Tag. Die Verpflegung ging noch weiter zurück. Nach vielen Aussagen gab es nur eine Scheibe Brot pro Tag, dazu unregelmäßig Wassersuppe. Die Belegungsstärke schwankte zwischen 1300 und 3000 Frauen in den vier Baracken. Dadurch wurden die sanitären Verhältnisse in kurzer Zeit katastrophal.

Im Herbst brach Typhus aus. Die Frauen konnten sich bald, weil durch die Arbeit zuwenig Zeit für persönliche Bedürfnisse war, vor Ungeziefer aller Art nicht retten.

Ein Massensterben begann. Es hielt im großen und ganzen bis zur Befreiung des Lagers durch die Rote Armee an.

Hinter dem Friedhof von Retzow wurden 12 Einzelgräber angelegt. Dort sind Frauen beerdigt, die in Rechlin als Reinigungskräfte eingesetzt waren.

7_Kapitel-V_Bild-2_1.jpg 7_Kapitel-V_Bild-3.jpg Auf diesem Platz befand sich das KZ-Nebenlager Retzow des Frauen-KZ Ravensbrück. 7_Kapitel-V_Bild-4.jpg Ein Schützenbunker zur Bewachung der Häftlinge.

Sie hatten, nach Aussagen von Angehörigen des Wachpersonals, Bohnerwachs als Brotaufstrich genommen und sich dadurch vergiftet. Weitere Tote wurden in einem Massengrab am Rande des Friedhofs verscharrt.

Die Verstorbenen wurden auf einem Karren, der von Frauen gezogen wurde, offen durchs Dorf dorthin transportiert.

Später wurden die Toten, nachdem es zu Beschwerden der Einwohner des Dorfes kam, in Schützengräben hinter dem KZ am Ausgang des Parkes in Richtung Mirow, geworfen und verscharrt. Regelmäßig wurden, meistens freitags, Transporte von sogenannten lebensunfähigen Frauen zusammengestellt, nach Ravensbrück gebracht und dort getötet. Ich möchte hier einen Ausschnitt aus einem Bericht einer Zeitzeugin einfügen. Er gibt uns ein kleines Bild, wie mit den schwerkranken Menschen umgegangen wurde:

„Ich will ihnen noch über die grausamste Nacht berichten, wo wir ihnen bei ihrer Henkersarbeit Hilfe leisten mußten.

Wir wurden in der Nacht geweckt, da ein Krankentransport aus Rechlin ankam. Nachdem Schwester Erika sie besichtigt hatte, sollten die Kranken auf Autos verladen werden: Die Art und Weise, wie wir sie aufgeladen haben, gefiel den SS-Leuten nicht, sie war ihnen zu menschlich. Wir mußten die Kranken hochheben, und wenn sie nicht rasch genug ins Innere des Lastwagens kochen, versetzte der SS-Mann ihnen einen Fußtritt, so das sie übereinander fielen. Als das Auto schon voll war und die Klappe zu, mußten wir uns auf Schemel stellen und die Kranken herüberwerfen.

Nach 10 bis 15 Minuten kam das Auto zurück, um weitere einzuladen. Daß diese Leute direkt ins Gas kamen, davon bin ich leider überzeugt. Der Ausdruck auf diesen Gesichtern war schrecklich. Viele von ihnen wußten schon, was sie erwartete. Wir konnten uns über diese, unsere Tat, nicht beruhigen.“

Im Winter 1944/45 wurde dann das Lager von einem Arbeits- zum zeitweiligen Vernichtungslager umfunktioniert. Frauen, die in Auschwitz vergast werden sollten und wegen des Anrückens der Roten Armee dort evakuiert wurden, konnten in Ravensbrück nicht alle untergebracht werden. Sie wurden zum Teil nach Retzow weitergeleitet.

Über die Leiden dieser Frauen, zumeist Jüdinnen, möchte ich auch einige Berichte zufügen:

2) „Die Lager Malchow und Rechlin waren später die Evakuierungslager, in die man einmal binnen zwei Tagen je rund 3000 Menschen brachte, die natürlich dort keine Unterkunftsmöglichkeiten, keine Verpflegung hatten und in denen viele, viele Häftlinge zu Grunde gegangen sind. Von Rechlin gingen täglich Todesmeldungen ein und die Häftlinge, die man von dort „krankheitshalber“ zurückbrachte, waren in einem unbeschreiblichen Zustand, vollkommen apathisch, Skelette, die nur noch am Boden Hegen konnten, kaum mehr sitzen, verhungert! Die man dann sofort vom Block in die Gaskammer brachte.“

3) „Wir sind in einen ehemaligen Kinosaal gekommen, wo sich schon 1500 Frauen, meist Jüdinnen, auf Strohdecken befanden, wo das Ungeziefer nur so wimmelte. Diese Frauen die sich nicht mehr rührten, erledigten ihre Bedürfnisse auf Jahren Strohdecken.

Da anfangs kein Platz mehr war, verbrachten wir nächtelang stehend, ohne Licht.

Es gab nur ein einziges Klosett. Abends machten die Frauen in ihre Eßschüssel und schütteten sie in der Luft aus. Es gab sehr wenige Wächter, sehr wenig Nahrung. Jeden Tag zog man 10 bis 12 Tote heraus, die man draußen hinlegte, bis das Lastauto von Ravensbrück kam. Oft waren da noch Arme, die sich bewegten.“

4)„Ich war zu dieser Zeit im Lager Rechlin (gemeint ist Retzow), in dem berühmten Block 6 unheilvoller Erinnerung. Als man uns nach einen Monat nach Ravensbrück zurückbrachte, sagten uns die Kameraden, die dort geblieben Waren: „Ihr riecht nach Tod.“ Wir waren drei Wochen oder einen Monat ohne Wasser gewesen, bei einer Teetasse voll Brühe und Brot in Größe eines Eies. Toiletten, die nicht funktionierten. Wir hatten nicht einmal Platz, um uns auf der Erde lang zu legen. Man stritt sich darum. Wieviele sind stehen geblieben, ohne ein wenig auszuruhen. Wir waren wie Ölsardinen in einer Büchse.“

5) „Ich kam Ende Februar 1944 nach Ravensbrück und von dort im Februar 1945 in das Außenlager Rechlin. Dort waren sämtliche Blocks bereits überfüllt als wir ankamen. Die Nahrung war absolut ungenügend. In unserem Block lagen auf Matratzen auf der Erde tuberkulose Frauen. Wir 300 Neuangekommenen konnten uns 14 Tage lang nicht einen Augenblick lang zum schlafen ausstrecken.

Jeden Morgen wurden Tote aus dem Block hinausgetragen. Sie wurden gestapelt und mit Kalk überschüttet. Viele Frauen starben vor Durst, Krankheit und Hunger. Wir erhielten nur eine Schnitte Brot pro Tag, Suppe nur sehr unregelmäßig und immer im Freien ausgegeben.“

Doch es kam noch schlimmer:

6.) „Am 15. Februar werden die von Königsberg / Oder Zurückgekehrten einem neuen „Transport“ zugeteilt, dessen Bestimmungsort Rechlin ist.

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In Rechlin müssen Schützengräben ausgehoben werden, sechs Kilometer vom Lager entfernt. Aber die Unglücklichen sind so erschöpft, daß sie kaum den Weg bewältigen können. Man pfercht sie, mehr als 800, zusammen in den Festsaal und läßt sie dort drei Wochen eingeschlossen bei 100 Gramm Brot täglich. Die Toten und Geistesgestörten verbleiben unter ihnen.“

„Mittlerweile sterben im Frühjahr 1945, einige Wochen vor der Befreiung, die Gefangenen massenhaft vor Erschöpfung und Hunger. Von den 250 Frauen, die in Königsberg / Oder und Rechlin waren, kehrten nur einige Dutzend nach Frankreich zurück. Manche erkennen auf ihren Gesichtern die Vorboten des Todes.

So beispielsweise die charmante Doudou, die Yvonne seit dem Abtransport aus Frankreich nicht verlassen hat und die im Stehen stirbt bei dem gefürchteten Appell um 3 Uhr morgens an der Seite ihrer Freundin.“

7.) „Im Herbst 1944 wurden für Schanzarbeiten in Rechlin in Mecklenburg Frauen von der Wehrmacht angefordert. Von dem verantwortlichen Leiter für Arbeitseinsätze, Flaum, wurden 6000 Frauen in Marsch gesetzt. Alte und junge. Da aber nur für 1000 Frauen Unterkunft und Essen vorhanden war, sind die anderen buchstäblich zugrunde gegangen.

Von den 6000 Frauen kehrten nach einigen Monaten nur 200 zurück. Diese Frauen kamen sofort ins Bad und dort habe ich mich selbst von ihrem Zustand überzeugt. Ich muß dazu sagen, daß mich ein Grauen erfaßte, als ich diese armen Geschöpfe, die nur noch ein Skelett waren, erblickte. Sie mußten sämtlich ins Revier, wo sie nicht mehr lange lebten. Es war furchtbar.

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Diese Berichte wurden als Zeugenaussagen bei Prozessen gegen leitende Offiziere des KZ-Ravensbrück gegeben. Sie stimmen in einigen Details nicht überein, zeigen uns aber alle auf, welcher grausamen Behandlung die Frauen ausgesetzt waren.

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Am 11.2. 1945 wurde ein Teil der Häftlinge nach Ellrich, KZ-Dora, umgesetzt. Trotzdem wurde der Bestand im Lager Retzow immer wieder aufgefüllt.

Zwar stellte sich der Weiterbau der Startbahn in Lärz als sinnlos heraus, trotzdem wurden bis zum Kriegsende Arbeitskräfte aller Art gebraucht und von der „Organisation Todt“ angefordert, die die Einsatzfähigkeit der Start- und Landevorrichtung nach den Luftangriffen gewährleisteten. Dazu wurden auch die Frauen aus dem Lager Retzow eingesetzt. Einige Wochen vor dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches wurden auch noch Frauen aus dem KZ-Lager zum Anlegen von Schutzgräben, der sogenannten Löffler-Linie eingesetzt.

Bei Fliegerangriffen auf die E-Stelle Rechlin kamen Anfang April 1945 mindestens 35 Frauen ums Leben.

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Mit den Frauen, welche im Lager Retzow inhaftiert waren, sind auch einige Kinder gekommen. Diese Kinder hatten es in den Wintermonaten besonders schwer. Sie waren irgendwo im Sommer zusammengetrieben worden und verfügten über keine Winterbekleidung. Ein Wachmann, der dem Landsturm angehörte und Volksdeutscher aus Rumänien war, sagte beiläufig einer Frau, die dem Lager gegenüber, wohnte: „Bestrafen Sie doch ihre Kinder nicht gleich so hart, wenn die ihre Handschuhe oder Socken da verlieren, wo die Arbeitskolonnen ein- oder ausmarschieren.“ Die Frau erzählte dieses Gespräch ihren Nachbarinnen. Keine Frau hat da was organisiert. Zu groß war die Angst vor dem Sicherheitsdienst der Erprobungsstelle Rechlin. Es ist auch nicht aufgefallen, daß die Kinder neben der Straße im Feldweg besonders viel spielten, wo die Arbeitskolonnen abends einrückten. Der Wachmann sagte zu der Frau, wie er nach einigen Tagen Essenreste der Wachmannschaft brachte, so ganz nebenbei Dankeschön für die Kinder und ihren Müttern. Im folgenden veröffentlichen wir Auszüge aus uns übergebenen Erlebnisberichten ehemaliger Häftlinge des Frauen- KZ Ravensbrück, die im Außenlager Retzow arbeiten mußten.

Zeitzeugen-Berichte

Christian Bernadoc

LES MANNEQUINS NUS

Die nackten Puppen oder Marionetten
Band 3
Kommandos de femmes de RavensbrückFrauen-Kommandos von Ravensbrück
Paris 1973
Stark gekürzter Auszugder deutschen Fassung
mit freundlicher Genehmigungder Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.
Anlage 1 zur Dokumentation

Rechlin

Der Kommandant der Kasernen und des Flugplatzes von Rechlin zuckte die Schultern, als er diesen jämmerlichen Zug vorbeimarschieren sah – die alten Strickerinnen von Ravensbrück hinkten am Schluß der Kolonne hinterher: Was soll ich denn damit anfangen! Seine Flugpisten waren von der Sonderkommission des Oberkommandos der Luftwaffe dazu bestimmt worden, die neuen Staffeln des Messerschmitt Me 262 aufzunehmen. Und dieser erste Reaktor-Jagdflieger erforderte ein auf ihn zugeschnittenes Gelände: in der Erde ausgehobene Hangars, durch Sandhügel geschützt, tiefe Treibstoff-Leitungen, in die Erde gegrabene Vorwerke für Munition und Ersatzteile, Start- und Manövrierbahnen so glatt wie ein Spiegel. Die Zentrale der Lager in Oranienburg hatte versprochen, Rechlin die „allererste Wahl von Fachleuten“ zuzuteilen.

Eine Kapo begann, die Reihen zu inspizieren. Mit der Spitze ihrer Peitsche bezeichnete sie diejenigen, die sie mitnehmen wollte. Die Straße, die wir entlanggehen, führt über den Flugplatz; dieser scheint uns sehr ausgedehnt, da wir sehr lange gehen.

Viele Flugzeuge stehen auf der Landebahn. Die Kolonne bleibt stehen …, ein ständiges Kommen und Gehen von Fliegern zwischen den Baracken; wir befinden uns im Zentrum des Lagers. Wir schauen um uns herum, neugierig; doch sehr schnell ruft uns die Kapo zurück in die Realität. Eine Kette wird gebildet und von einem Speicher heruntergeholte Schaufeln werden durchgegeben. Nachdem jede ein Werkzeug hat, werden Arbeitsgruppen gebildet.

Ich bleibe in der Nähe von Lucienne, doch Isabelle und die beiden anderen werden in eine andere Richtung weggeführt. Während unsere Freundinnen im Inneren des Lagers verschwinden, gehen wir weiter. Der zurückzulegende Weg ist sehr kurz und der Arbeitsort ist erreicht. Eine Anhöhe, die nichts gegen den eisigen Wind schützt, der seit dem Morgen bläst; ein toniger Boden, den wir ausgraben müssen, um eine Grube zu graben, in der ein Flugzeug Platz findet: dies ist die Stelle, an der wir viele Stunden verbringen werden.

Die SS-Leute und die Flieger machen sich unablässig eifrig zu schaffen. Sie bemächtigen sich der Schaufeln und, die Erde mit Schwung zur Seite werfend, sie zeigen uns, wie man es anstellen muß, um gute Arbeit zu leisten. Die Schaufeln graben sich zäh in den schweren Boden ein, und die Überwachung ist streng. Neben mir gräbt Lucienne; das ist ihre erste harte Arbeit nach ihrer Rückkehr aus dem Revier, und ich frage mich beunruhigt, wie sie es aushalten wird. Die Zeit vergeht. An das Leben im Freien gewohnt, kann ich nach dem Sonnenstand sehen, das Mittag nicht mehr weit ist.

Wir schöpfen beide angesichts der Aussicht auf eine Pause neuen Mut. Das Heulen einer Sirene gibt mir bald recht. Schon legen wir unsere Schaufeln ab, doch der SS-Mann springt auf: „Los … los …“ Aber was denn, die Pause? Die Suppe? Na und! In Rechlin sind die Regeln nicht dieselben wie in Ravensbrück, ganz einfach. Die Suppe gibt es nach der Rückkehr ins Lager, um ca. 16.30 Uhr, und der Arbeitstag wird in einem Zuge beendet. In unserer Nähe essen die SS-Leute mit Appetit den Inhalt ihrer dampfenden Kochgeschirre.

In wenigen Tagen „schwindet“ das Kommando „dahin“. Keine dieser Frauen ist – nach langen Monaten der Deportation – so geschaffen, diese anstrengenden Bauarbeiten tun zu können.

Nun, angesichts so wenig Arbeitseifer, die Strafe ist gekommen, schrecklich. Der Lagerkommandant, der begriff, das er aus diesen alten störrischen Französinnen nichts herausholen konnte, pfercht uns in dem Vorzimmer zum Tod ein, dieses scheußliche menschliche Massengrab: das ist ein alter Festsaal. Er ist schon ganz und gar mit elenden Lagern gefüllt, wo die Typhuskranken und die Tuberkulösen im Sterben liegen. Die 200 bis 300 Neuankömmlinge müssen in den 50 cm breiten Gängen einen Platz zum Schlafen finden. Keine Rede mehr davon, sich hinzulegen, nicht einmal, sich hinzusetzen. Der Körper, der arme gebrochene Körper, nimmt unwahrscheinliche Haltungen an, niedergekauert, gekrümmt, niedergesunken, verbogen, Stellungen, die nichts menschliches mehr an sich haben. Wenn in der Nacht, die für uns um vier Uhr nachmittags beginnt, wir das Pech haben, den Strohsack einer Unglücklichen zu berühren, die am Rand des Ganges liegt, sammelt diese ihre letzten Kräfte, um uns Fußtritte zu geben oder mit dem Gürtel zu schlagen.

Erinnern Sie sich, meine liebe Tantine, an diese schreckliche Nacht, wo Sie keinen Platz für Ihren armen Körper finden konnten und Sie von dieser irren Deutschen denn solche gab es auch – so grausam geschlagen wurden? Am Ende Ihrer Widerstandskraft, haben Sie mich gerufen, und ich konnte Ihnen nur sagen: „Vor allem, sprechen Sie nicht, damit sie nicht merkt, daß Sie Französin sind.“ Und in der Nacht werden – auf Befehl des Kommandanten – alle Lichter ausgelöscht.

Die Unglücklichen, die unaufhörlich zu den Toiletten am Blockeingang müssen, müssen über alle diese jämmerlichen, zusammengerollten Gestalten steigen. Da sie nichts sehen, auf ihren schwachen Beinen schwanken, überall kämpfen, stürzen sie in ganzen Trauben auf uns, nehmen uns den Atem und widern uns mit ihren ekelhaften Gerüchen an.

Arme Frauen, arme Märtyrerinnen. Natürlich sind sie alle tot! Wie verfluchten wir sie, wenn sie zurückkamen und ihre beschmutzten Schuhe sich auf die Beine, den Rücken, den Kopf einer Unglücklichen stellte, die eine Minute einnicken konnte! Hin und wieder ließ sich nachts tobsüchtiges Geschrei vernehmen. Es war eine fürchterliche, erbitterte Schlacht zwischen einigen Frauen, den Unglücklichen, die kaum wußten, warum sie sich so schlugen.

Die Hölle von Dante war nicht schrecklicher als dieser Raum, in dem es von jämmerlichen Menschengestalten wimmelte, die heulten und einen raschen Tod herbeiriefen wie ihre größte Hoffnung. Keine andere kann es für uns geben … Und doch, eines Abends ertappe ich mich dabei, folgende Worte zu wiederholen: „Nein, trotz allem, ich will hier nicht krepieren.“

In diesen schrecklichen Tagen und diesen höllischen Nächten kam zu unserer Müdigkeit der schreckliche Hunger hinzu, der uns quälte. Das Brot war für zehn Leute bestimmt (d.h. 100 Gramm für jede) und wir hatten einen halben Schöpflöffel Suppe. Doch meistens hatten wir einen Tag das Brot, den nächsten Tag die Suppe. Wir fielen um vor Müdigkeit und vor Hunger. Beinahe ständig stattfindende Appelle am Tag ließen uns draußen in Schnee und Kälte stehen. Und meistens für nichts. Nur für das Vergnügen, uns leiden zu lassen.

Ich habe da ungeheuerliche Dinge gesehen. Eine kleine Russin, die verrückt geworden war, verrückt vor Hunger, versuchte, ihre Gefährtinnen zu beißen. Sie wurde gefährlich. Also, das war ganz einfach: Man band ihre Hände und Füße zusammen, dann warf man sie in eine Ecke in den Toiletten …

In diesem kleinen Raum, der zu klein war für die 800 gefangenen Frauen, die wir waren, lief schmutziges, übelriechendes Wasser über, das unaufhörlich das arme, dorthin geworfene Kind besudelte, das sich nicht einmal mehr wehrte. Sein Gesicht, seine Kleidung waren in diese ekelhafte Kloake eingetaucht. Nachts trat man in der Dunkelheit auf sie. Mehrmals hatte ich versucht, sie da herauszuholen, doch man befahl mir, sie da zu lassen. Vorsichtig hatte ich sie ein wenig beiseite gezogen … damit sie wenigstens den Fußtritten entging, doch ihre Henker hatten sie in den Gang zurückgestoßen. Nach vier Tagen und vier Nächten lebte sie noch immer … Sie wurde dann nach draußen gebracht und mit dem Stock zu Tode geprügelt …

Das ist nicht alles … Ich habe auch noch diese furchtbare Sache gesehen … Im Sterben liegende Frauen, deren Todeskampf nach Ansicht unserer Wächterinnen zu lange dauerte … Diese Ungeheuer legten dann diese Sterbenden nackt, nur mit einer dünnen Decke zugedeckt, auf eine Tragbahre und brachten sie hinaus in den Schnee … Die eisige Kälte gab ihnen den Rest. Ich habe gesehen, wie viermal durch Prügelschläge durch polnische und deutsche Polizistinnen die Netzhaut geplatzt ist. Sie nahmen einen Uniformgürtel, und mit der Schnalle peitschten sie quer über das Gesicht, um sicher zu sein, nicht die Augen zu verfehlen … Und sie verfehlten sie nicht! Es schien mir, als hätte ich diese vier Prügelschläge selber erhalten. Ich hörte die Klagen dieser Unglücklichen, die nicht anders versorgt wurden als mit ein paar Tropfen, die die Oberschwester ihnen aufs Geradewohl ins Auge schüttete … Ein weiteres Ungeheuer … Und dann erhielten sie noch neue Schläge, weil sie zu sagen gewagt hatten, daß es die Polizistinnen gewesen waren, die sie so verletzt hatten … Ich hörte ihr Ächzen … Ich habe ihre armen mir zugewandten Gesichter gesehen, hoffend, daß ich sie versorgen, sie verbinden, sie beruhigen werde. Doch die Oberschwester lehnte es unerbittlich ab.

Wie bekümmert war ich, nichts tun zu können! Nichts. Sie trösten? Sie beruhigen? Ihre Leiden mildern, dämpfen … Nein … Nein, nicht einmal das … Sie litten zu sehr …

Oh, diese vier Prügelschläge – zwischen so vielen anderen, die ausgeteilt wurden, leider Gottes …

Ich werde ihnen niemals verzeihen. Ich habe mir geschworen, meine Kameradinnen zu rächen, und ich werde erst glücklich sein, wenn das getan ist. Ich habe mich oft gefragt, weshalb wir in diesen Tagen des Greuels nicht alle verrückt geworden sind.

10. April 1945: diesen Morgen schaufeln wir an der Grenze vom Flugplatz einen Graben. Es dauert nicht lange, und die Flugpiste ganz in der Nähe beginnt, sich ungewohnt zu beleben: mit Munition beladene Lastwagen. „Voralarm … Voralarm …“; die Sirene beginnt zu dröhnen … Automatisch heben wir den Kopf; die SS-Leute, beunruhigt, sehen ebenfalls nach oben …; der Himmel ist klar und blau, sie beruhigen sich. „Los … los … Arbeit; nicht arbeiten, nicht essen... Wieder graben sich die Schaufeln in die Erde ein. „Fliegeralarm Fliegeralarm …“; die Sirene hört nicht mehr auf.

Die Gefahr droht unmittelbar, unsere Wachen werden kopflos: „Schnell … schnell … Wir müssen sogar die Werkzeuge liegenlassen. Die hastig gebildete Kolonne setzt sich • im Laufschritt in Bewegung in Richtung des kleinen Waldes ganz in der Nähe; das Brummen der Flugzeuge erfüllt die Luft.

Aber wir müssen zu schnell laufen; ich lasse mich überholen. Marila dreht sich um und ruft mir zu: „Schnell, großer Alarm, kaputt … „Ich kann nicht laufen … ich kann nicht mehr …“ Isabelle, die schon Jeannot stützt, sieht, das ich gleich falle; sie ergreift mich und schleift mich hinterher; das verrückte Laufen geht weiter. Wir erreichen die ersten Bäume; es ist höchste Zeit, die Bomben beginnen zu fallen. Unser kleiner Wald liegt direkt in der Feuerzone; die Geschosse bersten an allen Seiten, in weniger als 100 Meter Entfernung von unserem Schutz. Instinktiv haben wir uns auf die Erde gelegt, die erschüttert wird, und, um uns zu schützen, haben wir unsere Eßgeschirre auf unsere Köpfe gestellt, Über uns geben die Flugzeuge ihr Feuer ab. Die SS-Männer sind kreidebleich, und die Aufseherinnen klappern mit den Zähnen. Um zusammen zu bleiben, wenn wir sterben müssen, haben wir uns ganz dicht aneinander gelegt. Laut und ruhig bete ich den Rosenkranz; Isabelle antwortet mir, ruhig.

Keine Gefangene denkt daran, Angst zu haben; eine große Freude erfaßt uns alle: „Sie sind da.“ Brandgeruch steigt auf; durch die Bäume erscheint dichter Rauch. Der Lärm hält lange an; dann plötzlich ist alles still. Eine kleine Russin wagt sich an den Waldrand; sie kommt zurück und liest dabei ein großes offenes Flugblatt. Ein SS-Mann stürzt sich auf sie, nimmt es ihr weg und ohrfeigt sie. Doch er hat nicht das gesehen, was sie in ihren Stiefel geschoben hat.

Um zu unserem Block zurückzukehren, nehmen wir Umwege; die Böschungen sind übersät von Papier. „Propaganda“, grinsen die SS-Leute. Unsere Gefährtinnen erwarten uns in den Zimmern; sie sind mehr tot als lebendig und glaubten, das wir alle getötet seien. Im Gang beginnen die Stubenältesten zu brüllen: „Appell … Appell!“ Es ist spät, und niemand begreift etwas; dennoch müssen wir alle hinaustreten. Draußen erwarten uns die Offiziere; der Kommandant, die SS-Leute, alle schäumen über. Sie ordnen uns mit groben Peitschenhieben und für den Weg auf den Flugplatz. Wir können uns nicht vorstellen, daß man beabsichtigt, uns zu dieser Stunde arbeiten zu lassen. Trotz unserer Müdigkeit sind wir ein wenig neugierig zu sehen, wie der Flugplatz aussieht. Genau, unsere Aufseher lenken uns zu der Ecke, wo wir heute morgen waren; was für ein Anblick! Überall weit aufgerissene Löcher; die Flugbahn ist unbefahrbar und Flugzeugrümpfe sind noch in Flammen. „Propaganda“, sagten die SS-Männer. Sie sind wütend und mit lautem Gebrüll organisieren sie die Arbeit. Lange Zeit sammeln wir, zur Erde heruntergebeugt, den Splitt auf, der fast überall verstreut ist, und werfen ihn in die von den Bomben geschlagenen Löcher. Die Nacht bricht herein, und unsere Silhouetten sind kaum zu erkennen. Bei ihrer Überwachung behindert, beschließen unsere Aufseher, uns zurückgehen zu lassen.

Schon im Morgengrauen des nächsten Tages gehen wir wieder los; die gleiche harte Arbeit erwartet uns. Es hat geregnet; von Zeit zu Zeit explodiert eine Bombe mit Spätzündung; wir werfen uns in den Schlamm.

Am 13. April 1945 werden die „Französinnen“ von Rechlin nach Ravensbrück zurückgebracht; mehrere -zig Überlebende aus diesem Kommando werden die drei letzten Wochen ihrer Deportation nicht überstehen und im Krematorium verbrannt.

Das Schlimmste war:

  • Nicht die Kälte, die so grausam war und an die der Gedanke allein schon die Mutigsten erblassen ließ, am Morgen vor dem Appell;
  • Nicht der Hunger, Gefährte, der zu allen Zeiten zugegen war und uns zu Träumen anregte und Thema unseres Gesprächs war;
  • Das war nicht die Arbeit, die Spitzhacke, so schwer in unseren schwachen Händen oder lange Stunden der Nacht, im Stehen vor einer Maschine;
  • Das war nicht der Schmutz, der der Nachbarin und der eigene. Man gewöhnt sich daran, auf seinem Körper Hunderte von Läusen herumkrabbeln zu spüren, an den Gestank des Durchfalls, an Abscheulichkeit, an die Schläge.

Aber das Schlimmste, das war seine Kameradinnen sterben zu sehen. Eine nach der anderen wurden ihre Gesichter zugleich eingefallen und aufgedunsen, und du dachtest: „Sie wird nicht mehr lange machen.“ Und, eines Morgens, fanden wir in dem Raum, in dem wir schliefen, zu 800 zusammengepfercht, auf dem gestampften Boden in unserer Nähe einen Körper, der schon kalt war. Wir waren so schwach, daß der Tod süß war, und der Weggang von dieser Menschheit, aus der wir schon gestrichen schienen, war leicht. Wir sprachen dann über die Tage, die wir mit der Toten zusammen verbracht hatten, über die schönen gemeinsamen Pläne, die kleinen Kinder, von denen sie oft sprach, oder der alten Mutter, die in Frankreich wartete, so weit … Und wir erschauerten wegen all dieser vergeblichen Träume, wegen dieser enttäuschten Hoffnungen, und auch, ein wenig, ohne es uns einzugestehen, weil wir Angst hatten, eines Tages selbst dieser arme Leichnam zu sein, dessen magerer Arm aus dem Stück Sacktuch herausragte, auf dem Karren, auf dem er von einer Gruppe von geschwätzigen und ahnungslosen Polinnen irgendwohin in den Wald gebracht wurde. Wir fühlten uns noch etwas mehr allein, etwas mehr verlassen …

Schlimmer war es, an Madeleine, meine Freundin, zu denken, die ich lebendig im Revier verbrannt glaubte, oder an Valentine, unsere kleine Adoptivschwester, die ganz sanft von uns ging, ohne Lärm, einfach und unscheinbar bis zum letzten Augenblick.

Schlimmer war es, auf dem abgemagerten Gesicht meiner Schwester die Zeichen des Todes zu erkennen, sie erschöpft in meiner Nähe während des Appells niedersinken zu sehen, mir die Heimkehr ohne sie vorzustellen, den Kummer von Mama.

Rechlin, Grab meiner Kameradinnen … Ich werde niemals diesen Namen hören können, ohne vor Schrecken zu zittern.

Mitglieder des Wirtschaftsausschußes des Landtages Meckl./Vorpommern übergaben anläßlich einer Arbeitstagung in Jerusalem einem Vertreter der Holocaust-Gedenkstätte, diese Dokumentation.

Ein Schriftverkehr kam zustande.

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Die vier folgenden Erlebnisberichte erhielten wir im September 1998 dankenswerterweise von dort. Die Übersetzung besorgten Berliner Mitglieder des „Bundes der Antifaschisten“ und der „IVVdN“ Berlin. Es schließt sich eine Arbeit von Germaine Tillion an. Die Autorin war zusammen mit ihrer Mutter in Ravensbrück und im Nebenlager Retzow inhaftiert. Die Arbeit „Das große Elend“ von Maisie Renault, 1948 – 3 Jahre nach der Befreiung geschrieben – führt uns den Leidensweg der Frauen in Rechlin/Retzow nochmals eindringlich vor Augen.

1. Weinberger, Katalyn

geb. 1930 in Satu-Mare (Rumänien)
(das Interview wurde in Hebräisch am 30.04.1996 in Israel geführt)
Von November 1944 bis Januar 1945 Auschwitz-Birkenau
Am 15. Januar 1945 direkt nach Retzow (Rechlin), nur einen Tag in Ravensbrück.

Frage: Als Du nach Retzow (Rechlin) gekommen bist, warst Du in einer Kindergruppe?

Antwort: Nein, nein. Das war ein Lager, aber es gab keine Räume für jeden einzelnen.

Frage: Du warst nur mit Kindern in der Baracke?

Antwort: Ja, dort habe ich schon mein richtiges Alter gesagt. Das war neben dem Krankenrevier und dort im Krankenrevier habe ich auch gearbeitet als Putzfrau.

Frage: Als Du in Retzow (Rechlin) angekommen bist, hat man Dich gleich in diesen Block geschickt?

Antwort: Ja, gleich in den Block.

Frage: In den Block?

Antwort: Ja. Die Erwachsenen hat man zur Arbeit genommen. Das war nicht weit von Berlin.

Frage: Ihr habt Euch besser vor dem Ende des Krieges gefühlt?

Antwort: Das war schon fast das Ende des Krieges.

Frage: Hat sich die Lage für Euch verbessert in Retzow?

Antwort: Ich kann gar nicht sagen, ob es in Auschwitz oder Retzow besser oder schlechter war. In Retzow war es schlecht, weil wir nichts zu Essen bekommen haben. Es ist folgendes passiert. Ich bin einmal nicht zur Arbeit gegangen und habe auf der Pritsche gelegen. Die Pritsche war 60 cm breit und für vier Kinder. Mit einmal sind zwei SS-Aufseherinnen hereingekommen und haben meinen Namen gerufen. Es hat sich herausgestellt, das eine Aufseherin mich gesehen hat und ich hätte ausgesehen, wie eine von den Aufseherinnen. Und diese wollte sehen, ob das stimmt.

Frage: Was hast Du zu essen bekommen in Retzow?

Antwort: Es hat kaum etwas gegeben und wenn, dann war es ohne Salz. Denn es hat kein Salz gegeben. Die Aufseherin, die mir ähnlich war, hat mir ab und zu Brot gebracht. Und sie war mir sehr ähnlich. Sie war sonst sehr schlecht zu den Häftlingen, aber zu mir hat sie sich anders verhalten.

Frage: Waren dort alles Juden in Retzow (Rechlin), alle Häftlinge?

Antwort: Ja, die eine Frau, die sich um mich gekümmert hat, kam aus Frankreich, aber ihre Eltern waren aus Polen. Sie hieß Silvia Reczewski. Diese Frau möchte ich noch einmal im Leben treffen. Eines Tages wurden alle französischen Häftlinge aus den Baracken geholt und wir haben nicht gewußt, ob sie umgebracht wurden oder ob sie wo anders hin gekommen sind. Wir haben gesehen, wie die amerikanischen Flieger Berlin angegriffen haben. In Retzow wurde ich auch typhuskrank und konnte kaum auf den Beinen stehen. Ich dachte, ich würde in einer Woche sterben.

Frage: Bist Du in das Krankenrevier eingeliefert worden?

Antwort: Ja. In dem gleichen Krankenrevier, wo ich gearbeitet habe.

Frage: Bist Du ohnmächtig geworden im Krankenrevier?

Antwort: Ja, schon draußen, nicht vor Verzweiflung, sondern weil ich zu schwach war Es stand dann zur Entscheidung, ob ich mit auf Transport gehen sollte oder dort bleiben. Ich habe mich entschieden, zu gehen, weil ich Angst hatte, daß die Baracken in die Luft gesprengt werden, wie in Auschwitz. Dann sind wir Tag und Nacht gelaufen. Vor mir ist ein junger deutscher blonder Soldat gegangen und hat sein Gewehr weggeschmissen und hat gesagt. „Scheiße“ und ist abgehauen. Dann sind die Amerikaner gekommen von der östlichen Seite der Elbe und haben uns befreit.

2. Weiß, Helena

geb. 24.12.1925 in Satrina (Slowakei)
(Das Interview wurde am 17.07.1992 auf Hebräisch in Israel geführt.)
Eitern waren dort Bauern
Mai 1944 Getto Ushgorod (jetzt Ukraine), dort in Ziegelei gearbeitet
Juni 1944 nach Auschwitz
von Auschwitz nach Frankfurt (Bau von Flugplatz) über Ravensbrück nach Retzow

Frage: An welchen Platz seit Ihr angekommen?

Antwort: Wir sind am Schluß nach Retzow gekommen. Das haben wir dort erfahren. Wir haben schon den Krieg gehört … Das war, bevor die Russen gekommen sind. Dort waren noch die Deutschen und haben uns angefangen zu vertreiben. Und unterwegs sind die Deutschen abgehauen und haben uns allein gelassen.

Frage: Wie lange warst Du in Retzow?

Antwort: Ich denke, zwei Monate.

Frage: Was habt Ihr dort gemacht?

Antwort: Dort sind wir in den Wald gegangen und immer vier Mädchen haben einen Baum gefällt und dann auf eine Transportbehälter gelegt. Das war unsere Arbeit. Jeweils zwei vorn und zwei hinten.

Frage: Warum?

Antwort: Sie hatten nichts für uns zu tun, das war nur zu unserer Quälerei. Dann hat man begonnen uns zu vertreiben und die Deutschen sind verschwunden.

Frage: Das war der Todesmarsch?

Antwort: Ja! Als uns die Deutschen verlassen haben, war das nicht weit von Retzow. Die noch Kraft hatten, sind zurückgegangen und haben die Küche aufgemacht und haben für sich Essen genommen. Wer keine Kraft hatte, ist weiter gegangen.

Frage: Wie weit seit Ihr gegangen?

Antwort: Ein paar Kilometer. Auch die, welche mit uns gegangen, sind solche gewesen, die keine Kräfte mehr hatten. Dann sind sie erschossen worden.

Frage: Wie ist es Dir ergangen?

Antwort: Wir haben uns geschleppt, nur die kleine Schwester hat Probleme gehabt. Die große Schwester hat Typhus gehabt in Retzow und ich und die jüngste Schwester waren auch krank und wir kamen noch ins Krankenrevier. So war es. Wir haben ja nicht gewußt, ob sie uns pflegen oder nicht. Damals wurde Retzow schon bombardiert. Nicht weit von dort war ein Flugplatz. Und die ganzen Fenster sind geplatzt und ich habe das nicht bemerkt. Ich war damals krank und bin von dort herausgekommen: Wir hatten einen Block „Altheste“. Ich kann mich erinnern, daß eine jüdische Frau Jakubowitsch mich gerettet hat. Es sind SS-Leute gekommen zum Block. Wer gelegen hat und nicht vor den Block gestanden hat, den haben sie an Händen und Füßen genommen und herausgeworfen, wie ein Stück Holz und die Leute waren noch am Leben. Frau Jakubowitsch hat mich aus diesem Block wieder herausgeholt, so haben wir uns eine neben der anderen an der Wand der Baracke aufgestellt. So sind wir stehen geblieben. Dadurch sind wir am Leben geblieben. Dadurch hat sie uns gerettet.

Frage: Du sprichst davon, als die Deutschen schon weg waren?

Antwort: Nein, bevor sie weg sind.

Frage: Wollt man Euch aus dem Lager wegbringen?

Antwort: Ja, ja, wir haben schon das Schießen der Kanonen gehört. Da hat man uns angeschrien: Raus, raus und wir mußten laufen. Stell Dir das vor, mit. Typhus. Mit Typhus; wie konnten wir überhaupt gehen. Aber wir haben es geschafft, was soll ich Dir sagen. Dann ist meine große Schwester krank geworden und wir sind in Malchow angekommen. Dort waren schon die Russen.

Frage: Seid Ihr ein paar Kilometer gegangen und sind die Deutschen da verschwunden?

Antwort: Ja. Die Deutschen waren nicht mehr da und die Russen sind gekommen. Die Russen haben die Deutschen erschossen und uns hat man nach Malchow gebracht. Dort hat man die Kranken gepflegt.

Frage: Wie hat man Euch genommen?

Antwort: Mit Autos hat man uns hingebracht und in die Häuser untergebracht. Dort wurde noch gekämpft. Meine Schwester war sehr krank. Sie wurde in ein Krankenhaus gebracht. Von dort ist sie mit dem Roten Kreuz nach Prag gebracht worden. Alle Mädchen außer sechs, sind mitgenommen worden.

Frage: Wie seid Ihr transportiert worden?

Antwort: Mit Autos. Das war sehr schwer. Die Russen waren dort und es gab nichts zu essen. Die Russen waren immer betrunken. Wir waren im Keller und haben dort geschlafen. Wir haben sehr große Angst gehabt vor den Russen. Jeden Tag sind wir zum Krankenhaus gegangen, ungefähr zwei Monate, bis unsere Schwester ist aus dem Krankenhaus gekommen.

Frage: Wie haben sie Euch hinübergebracht?

Antwort: Mit Bussen

Frage: Was war die Begründung warum eure große Schwester dort geblieben ist?

Antwort: Wir wollten nicht unsere Schwester allein lassen und waren die ganze Zeit bei ihr und noch drei Schwestern.

3. Junger, Roszi

geb. 08.07.1928 in Kozepapsan (Ungarn)
Getto Aknasziatina
Auschwitz: 08.05.1944 bis 08.12.1944
Kommando „Mexiko“
Ravensbrück: 16.12.1944 bis 05.01.1945
Retzow: 06.01.1945 bis 03.05.1945
(Bericht ohne Damm in Ungarisch)
Kam im Dezember 1944 nach Ravensbrück. Wegen Flecktyphus „Blocksperre“.

„Nach drei Wochen wurden wir mit dem Lastwagen nach Retzow transportiert. Dort haben wir auf einem großen Flugplatz gearbeitet. Wir sollten schwere Steine tragen und mußten die Flugzeuge im Wald verstecken. Es war eine sehr schwere Arbeit und wir haben sehr gelitten. Wir mußten unter der Aufsicht von Aufseherinnen arbeiten und wurden ständig angetrieben. Täglich haben wir 12 Stunden arbeiten müssen mit einer Brotration von 100 Gramm. Aus diesem Grund war unser Hunger riesig und sehr viele sind vor Erschöpfung gestorben.

Als die russischen Truppen gekommen sind, sollten wir zu Fuß nach Hamburg getrieben werden. Unterwegs habe ich mich mit zwei Leidensgenossinnen befreundet und wir sind in einen Wald geflüchtet. Dort wurden wir von den russischenTruppen aufgefunden und befreit. Mit ihrer Hilfe bin ich mit dem tschechischen Transport (über Prag) nach Budapest gekommen.“

4. Kratowska, Karla

geb. 24.12.1925 in Satrina (Slowakei)
(Das Interview wurde 1981 auf Jiddisch in Amsterdam geführt)

1935 in Vorbereitungslager für Kibbuz in Poznan, wegen antisemitischer Überfälle von polnischen Studenten auf das Lager zur in Amsterdam verheirateten Schwester. Nach deutscher, Besetzung in das Lager Westerbork, von dort nach Auschwitz-Birkenau. Vater, Mutter, Bruder und Schwester mit Kind sind im KZ umgebracht worden. Im Januar 1945 zunächst Fußmarsch von Auschwitz-Birkenau, dann mit Güterwagen nach Ravensbrück.

In Ravensbrück nur ein paar Tage.

„Von Ravensbrück hat man uns nach Retzow verschleppt, das war die Hölle auf Erden. In der Luft hat man schon gefühlt, daß die Befreiung kommt. Das war ein Traum, eine Phantasie.

Die Deutschen waren sehr nervös, sie wollten sich zwischen uns Häftlingen verstecken, als die Russen vorwärts kamen.

Die Deutschen haben uns gesagt, die Russen werden euch eure Brüste abschneiden.

Wir sind weggelaufen in den Wald, eine kleine Gruppe von sechs Frauen, vier tschechische, eine ungarische und ich.

Wir haben gesehen, daß die Deutschen uns weiter verschleppen wollten. Wir sind weiter gelaufen in ein Haus, dort waren deutsche Flüchtlinge. Wir haben unser ganzes Leben eingestellt auf Überleben. Ich war schon ein bißchen frei. Die eine tschechische Frau hat gesagt: Karlacka, komm mit uns weiter und ich bin mit weitergegangen.

In einem Haus haben wir zuerst nach Essen gesucht. Dort haben wir einen sterbenden Mann gefunden, er konnte nicht sagen wer er war und woher er war. Es wurde von den Deutschen über uns hinweg geschossen. Wir haben gefühlt, die Front ist nicht weit. Wir haben ein Grab gegraben und den Toten mit einem Zettel hineingelegt.“

Frage: War er ein Jude?

Antwort: Ja, er war ein Jude.

Frage: Wie |ange ward Ihr im Wald, bis die Russen gekommen sind?

Antwort: Wir waren sehr hungrig und hatten kein Essen. Wir sahen eine Grube. Darin war eine Frau, eine ehemalige jugoslawische Partisanin. Sie hatte ein jüdisches Mädchen mitgebracht, das war tot. Sie hat gefragt, wißt ihr nicht, wo die Russen sind.

Am dritten Tag hat sie gesagt: Kinder, ich höre Russisch sprechen: Ihr seit frei! Niemand kann sich vorstellen, was für ein Gefühl das war. Viele Deutsche lagen tot im Wald. Wir sind auf die Russen zugelaufen. Die haben gesagt, versteckt euch noch, in einem halben Tag kommen unsere Panzer. Wir sind an die richtige Stelle gegangen. Nach ein paar Stunden kam der erste Panzer. Der erste Offizier war ein Jude, der Jiddisch sprechen konnte. Wir haben ihn geküßt und sind auf den Panzer geklettert. Die Russen haben uns gewarnt, wir sollten vorsichtig sein. Der Offizier hat gesagt, ihr könnt wieder dahin, wo ihr hergekommen seit. Ich habe gesagt, ich bin von Holland. Er sagte, geh wieder dorthin, Die Russen haben uns in einen Ort gebracht und gesagt: „Nehmt euch was ihr braucht. Ich habe in der Küche gearbeitet und sauber gemacht.“

Die tschechischen Frauen haben dann zu Karla Kratowska gesagt, sie solle mit ihrem Transport nach Prag gehen.

Sie hat sich aber französischen Kriegsgefangenen angeschlossen und War einen Monat nach der Befreiung am 2. Juni 1945 wieder in Amsterdam.

Germaine Tillon

Frauenkonzentrationslager Ravensbrück

Aus dem französischen von
Barbara Glaßmannmit einem Anhang
„Die Massentötungen von Ravensbrück“
von Anise Postel-Vinay
Erste Auflage 1998
Dietrich von Klampen GbR
Postfach 1963; 21309 Lüneburg
Tel.:0 41 31/73 30 30;
Fax: 04 13 1/73 30 33
© für die deutsche Ausgabe by zu Klampen Verlag

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Dieses Buch widme ich all den Männern und Frauen, die wir durch den Tod verloren haben, insbesondere jedoch meiner Mutter, Frau Lucien Tillion, geborene Emilie Cussac. Sie wurde wegen ihrer Teilnahme am Widerstandskampf am 13. August 1942 in Saint-Maur verhaftet und ist am 2. März 1945 in Ravensbrück ermordet worden – weit sie neunundsechszig Jahre alt war.

Verleih von Arbeitskräften an Fabriken

Das Lager stellte billige Arbeitskräfte nicht nur den Leitern von Unternehmern zur Verfügung, deren Werkstätten in der Nähe von Ravensbrück lagen – auf Anforderung wurden diese Arbeitskräfte auch innerhalb ganz Deutschlands verschickt. Das war es, was als „Transporte“ bezeichnet wurde. Für den vereinbarten Preis erhielt ein Handeltreibender die 500 oder 1.000 angeforderten Frauen sowie die Aufseherinnen, die mit Knüppeln und mit dressierten Hunden ausgerüstet waren und die dafür sorgten, daß die erschöpften und unterernährten Frauen zwölf Stunden am Tag Arbeit leisteten, bis sie daran starben. Dann wurden sie durch andere ersetzt, ohne daß dem Arbeitgeber daraus zusätzliche Kosten entstanden. Durch den Einsatz der Hunde und durch die Schläge wurden sie aber, ehe sie starben, bis ans Ende Ihrer Kräfte genutzt – in diesem makellosen Kreislauf gab es keine Vergeudung.

Die Sekretärinnen, die in den Büros des Arbeitseinsatzes arbeiteten, haben 55 Fabriken oder Werkstätten gezählt, in die Ravensbrück Häftlings-Arbeiterinnen schickte.

Und wir wissen nicht, ob diese ihre Auflistung vollständig war,

Der größte Teil dieser Nebenlager hing in administrativer Hinsicht an Ravensbrück, einige aber (beispielsweise Braunschweig, Hannover) lagen auch in der Einflußsphäre von Neuengamme oder waren an andere große Hauptlager angebunden – an Buchenwald, Dachau, Flossenbürg oder Mauthausen. In solchen Fällen wurden die Gefangenen als abhängig angesehen und erhielten, wenn sie zurückkamen, eine neue Häftlingsnummer. Die Anzahl der Häftlinge mit zwei Nummern ist von unseren Kameradinnen aus dem Arbeitseinsatz auf 2.000 und von den Kameradinnen aus dem Politischen Büro auf 3.000 geschätzt worden.

Die Anzahl kann in Wahrheit ein wenig höher gelegen haben, wenn man bedenkt, daß zahlreiche Rückführungen in den letzten Tagen erfolgt sind und daß zu jener Zeit dann schon erhebliches Durcheinander herrschte.

Noch heute, mehr als vierzig Jahre nach der Befreiung, gibt es keine Gesamt-Untersuchungen zu diesen Außenkommandos, doch liegen uns zu einigen von ihnen zuverlässige Zeugenaussagen in publizierter Form vor.

Es ist keinesfalls sicher, daß die nachfolgende Liste vollständig ist, über die ich verfüge. Sie wurde – gezwungenermaßen, denn Ravensbrück hat keine Archiv-Unterlagen hinterlassen – auf der Grundlage von Erinnerungen aufgestellt.

Fabriken, die administrativ zu Ravensbrück gehörten

  • Neubrandenburg
  • Barth
  • Luftstützpunkte Königsberg i.d. Neumark und Rechlin

Rechlin

Dieses kleine Lager war in Wahrheit ein Tötungslager, das in seiner Grausamkeit dem Vernichtungslager Uckermark und dem Massen-Todeslager Bergen-Belsen vergleichbar ist. Ich habe Frauen – solche, die nach Ravensbrück zurückgebracht wurden – von dort zurückkommen gesehen. Sie waren nicht mehr wiederzuerkennen, und sie sahen alle in gleicher Weise aus wie Tiere im Todeskampf, mit zitternden Leibern. In der Zeit zwischen ihrer Ankunft im Verlaufe des Nachmittags und der Stunde, in der sie einen Block bekamen, sind fünf oder sechs Frauen aus ihren Reihen gestorben. Einige von ihnen kamen im Jugendlager um, und einige haben noch weitergelebt bis zum 2. April 1945. Ich habe sie in den Gruppen wiedergetroffen, die vom schweizerischen Roten Kreuz gerettet worden waren.

Es gab dann noch andere Lastwagen, die von Rechlin kommend erst gar nicht ins Lager hereinfuhren …

Diese Lastwagen wurden gesehen von Französinnen, die aus den Siemens- und den Bekleidungswerken kamen. Sie konnten einige Worte mit ihren Landsleuten wechseln, die auf diesen Lastwagen eingesperrt saßen. Unter diesen befand sich eine von den Französinnen genau identifizierte Kameradin, Frau Dr. Maria Peretti della Rocca. Von ihr stammte die Information, daß die Lastwagen von Rechlin kamen.

Frau Dr. Maria Peretti della Rocca und ihre Kranken kamen nicht herein in das Lager Ravensbrück und auch nicht in das kleine Lager Uckermark.

Unsere Kameradinnen haben nicht gesehen, daß die Lastwagen in den eingezäunten Bereich hineinfuhren, der die Verbrennungsöfen umgab, aber sie hielten vor der Einfahrt zu diesem abgeschlossenen Bereich …

Es gibt keine Schreiberin, die aufgefordert worden war, die Nummern dieser Frauen aufzuschreiben (wie das sonst im Lager Uckermark bei den Abholaktionen für die Gaskammer geschah), aber man kann annehmen, daß die entsprechende Aufstellung bereits vor der Abfahrt in Rechlin gefertigt worden war – und es ist auch möglich, daß das Sekretariat des Krematoriums damit beauftragt gewesen ist. Auf jeden Fall gibt es auch nicht die Spur einer Identitätsliste zu diesem Transport. Deshalb kann man davon ausgehen, daß die von den Schreiberinnen aufgestellten Berechnungen (in denen die Frauen erfaßt sind, die in Ravensbrück durch Gas getötet wurden und die aufgestellt wurden auf der Grundlage der von ihnen vor den Abholaktionen gefertigten Identitätslisten) niedriger als die tatsächlichen Zahlenangaben in den Aufstellungen liegen, die in den Totenbüchern des Krematoriums standen. Aber die Krematorien sind zerstört, und die Häftlinge, die das Krematorium in Betrieb hielten, sind vergiftet worden (siehe auch Kapitel 10).

Als die SS-Leute Rechlin evakuierten, ließen sie dort Schwerkranke zurück, die ihrer Meinung nach keine Überlebensaussicht hatten. Von diesen waren noch einige am Leben, als die russische Armee am 2. Mai in das Lager eindrang. Sie wurden medizinisch versorgt, und einige von ihnen haben überlebt.

Die letzten TageWährend dieser letzten Periode des Lagers, der Periode der methodischen Vernichtung, führte ich regelmäßig Buch über die wichtigsten Fakten, über Dinge, die ich meinem Gedächtnis nicht mehr anzuvertrauen wagte. Ich wußte oder sah vieles, was ich nicht aufgeschrieben habe, und ich notierte vor allem Fakten, die mich unmittelbar bewegten und erschütterten und die ich darum ganz genau festhalten wollte.

Dienstag, 27. März

Selektions-Appell während unserer Abwesenheit. Bei der Rückkehr am Abend finden wir 1.000 Frauen vor Block 24, abfahrbereit zum Jugendlager, wohin sie bei Einbruch der Dunkelheit gefahren werden.

Zum selben Zeitpunkt befand sich ein aus Rechlin ankommender Transport auf der Lagerstraße.

Um 18 Uhr, bei der Rückkehr von der Arbeit, gehen wir dicht an ihnen vorbei, und ich erkenne vor allem Souris de Bernard wieder. Die Frauen liegen gegenüber den Duschen auf der Erde, fünf oder sechs sind während der paar Stunden, in denen man sie hier hat liegenlassen, schon gestorben. Die anderen sind furchtbar abgemagert, ganz braungebrannt von der Sonne und gleichzeitig blutleer, ihre Blicke verängstigt und verstört …

Karfreitag, 30. März

Heute findet eine „Vergasungs-Aktion“ statt, die die zahlenmäßig bislang größte ist (ca. 350 Opfer, davon ungefähr fünfzig Französinnen). Der Lastwagen ist zu diesem Behufe siebenmal die Strecke zwischen dem kleinen Lager und dem Krematorium hin und her gefahren. Zum ersten Mal hatten die Opfer versucht sich zu wehren: neun hatten sich versteckt und wurden im Verlaufe einer dramatischen Hetzjagd wieder eingefangen. Dann sperrten die SS-Leute die unglücklichen Frauen in eine Zelle, wo sie sich wie üblich entkleiden mußten (denn man durfte ja nicht riskieren, die schäbigen Fetzen, die noch weiter getragen werden konnten, mit zu verbrennen).

Um die Frauen zum Einsteigen auf die Lastwagen zu bewegen, hielten sie ihnen ein Stück Brot hin, das sie ihnen nachher wieder abnahmen – auch das Brot konnte ja noch weitere Verwendung finden. Bei einigen Frauen sind jedoch Angst und Schrecken stärker als der durch den Anblick des Brotes ausgelöste Reiz: sie wehren sich und schreien laut. Einige Meter entfernt verfolgen ihre entsetzten, in ihren Blocks eingeschlossenen Kameradinnen die ganze Szene durchs Fenster.

Und zu ebendieser Stunde hält der weißlackierte Ford des Genfer internationalen Roten Kreuzes vor dem Eingang zum Lager (der schweizerische Arzt, der die Mission leitet, beginnt seinen ersten Vorstoß hinsichtlich des Austausches von 300 französischen Häftlingen, aber er kann nicht mit Kommandant Suhren zusammentreffen, denn der ist beschäftigt).

Wo überall holten die Zulieferfahrzeuge für die Gaskammer ihre Opfer ab?

Im Außenkommando Rechlin-Retzow

Am 14. Februar 1945 wurden 2.000 Frauen, darunter zahlreiche Französinnen, in dieses kleine, in einem Luftwaffenstützpunkt befindliche und dreißig Kilometer nördlich von Ravensbrück gelegene Lager geschickt. Die Behandlung dort war auf Massenvernichtung ausgerichtet, genauso wie in Uckermark: die halbe Ration an Essen wurde unter freiem Himmel ausgereicht, es gab keine Zudecke, zwölf von vierundzwanzig Stunden durfte man nicht zur Toilette gehen, die Appelle dauerten sechs bis acht Stunden pro Tag, und die Häftlinge waren in unbeschreiblicher räumlicher Enge in einem ehemaligen „Festsaal“ eingepfercht. Die wenigen Arbeitskolonnen, dazu eingesetzt, Erdgräben für die Flugzeuge, die im übrigen bald darauf woanders hinverlegt wurden, zuerst auszuheben und dann wieder zuzuschütten, erhielten auch nur eine einzige Mahlzeit pro Tag. Gleiches traf auf die Kolonnen zu, die im Wald unnötige Transporte von Baumstämmen durchführten.

Von den insgesamt 2.000 Frauen starben, wie im Jugendlager auch, jeden Tag dreißig bis vierzig eines „natürlichen“ Todes. Es wurde dort nicht mit Gift gemordet und auch nicht mit der Spritze, aber im März und April erschien zweimal hintereinander die Selektions-Mannschaft aus Ravensbrück und holte die Kranken aus dem Revier. Sie spulten ihr komplettes Szenario einer zweifachen Selektion ab, das genau dem glich, das auch in den Krankenblocks von Auschwitz vonstatten ging, so die Aussagen von Dr. Ilsa Freund, die von dort kam. Dr. Treite und der Leiter des Arbeitsbüros, Pflaum, waren da, zusammen mit weiteren SS-Leuten, deren Namen nicht bekannt geworden sind. Wenn.der Tag zuende war, transportierten jedesmal zwei Lastwagen die Kranken ab. Diese kranken Frauen sind niemals im Lager Ravensbrück angekommen. Es wird vermutet, daß man sie auf direkten Wege in die Gaskammer gefahren hat.

Anfang März wurde ein Teil der französischen Frauen aus Rechlin nachts nach Ravensbrück zurückgebracht. Ein nach Nationalitätsgesichtspunkten zusammengestellter Transport – das hatte es noch nie gegeben:

zweifelsfrei sollten die Unterhandlungen mit dem Roten Kreuz in Genf beginnen. Die zum Skelett abgemagerten Frauen, dunkelhäutig durch Sonneneinwirkung und Schmutz und blicklos, wurden zuerst im hinteren Teil des Lagers hinter Stacheldraht eingesperrt und dann am 15. März ins Jugendlager geschafft. Am 27. und am 30. März kommen wiederum Lastautos nach Rechlin, um die Häftlinge in ein „Erholungslager“ zu transportieren. Die Frauen von diesen beiden Lastwagen sind nie wieder aufgetaucht. Am 15. April werden die restlichen Französinnen auf Lkws verladen und kommen wirklich in Ravensbrück an. Eine letzte Selektion findet vor den Duschräumen statt.

Maisie Renault

La Grande Misere
Das große Elend
Vannes 1948
Frau Christel Trouve besorgte die Übersetzung aus dem französischen und Frau Angelika Meyer stellte die Textauszüge eigens für diese Dokumentation zusammen
Dezember 1998

Editorische Vorbemerkungen

Maisie Renault schreibt über die Zeit ihrer Inhaftierung im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und im Außenlager Retzow. Da die vollständige Übersetzung des gesamten Buches sehr viel Zeit und Kosten in Anspruch genommen hätte, entschlossen wir uns für eine Neubearbeitung des Textes. Dabei untersuchten wir die Erinnerungen über Retzow unter einigen spezifischen Gesichtspunkten wie z.B. der Topographie des Lagers und der Umgebung, der Häftlingsgesellschaft, den Lebens- und Überlebensbedingungen und den Arbeitsbedingungen.

Auch wenn dies nur eine subjektiv getroffene Auswahl von Textpassagen bedeutet und man Gefahr läuft, der Gesamtbiographie ihre „Stärke“ zu nehmen, ist es uns doch gelungen, Auszüge dieser Biographie erstmals vom französischen Original ins deutsche zu transferieren.

Bezüglich der Frage

„Was ist im KZ-Retzow geschehen?“

ist diese Biographie eine der wenigen, die Retzow ausführlich beschreibt.

Es gibt nur sehr wenige mündlich und schriftlich überlieferte Erinnerungen von Frauen an diese Zeit.

Diese Biographie ist eine individuelle Verarbeitung des Erlebten und kann daher nicht für die Leiderfahrungen der anderen Frauen sprechen und ein historisches Gesamtbild abgeben.

Jede Biographie ist einzigartig. In Verbindung mit den anderen Aussagen fügen sich jedoch Bruchstücke dieser Geschichte zusammen.

Eine Biographie von 1948 heute zu lesen bedeutet, daß viele Fragen entstehen und offenbleiben.

Sie können hier leider nicht beantwortet werden.

Ein großer Teil des Originaltextes wurde von uns in seiner Aussage zusammengefaßt.

Die Original-Zitate sind im folgenden Text fettgedruckt hervorgehoben.

Die Französin Maisie Renault wurde zusammen mit ihrer Schwester Isabe im Sommer 1942 von der Gestapo wegen Widerstandsaktivitäten verhaftet, Über verschiedene Gefängnisse kommen sie in Compiegne an. Polizeihaft und Durchgangslager für politisch Internierte und Deportationsstelle für Juden nach Auschwitz-Birkenau. Von dort aus wurden sie im Sommer 1944 nach Ravensbrück deportiert.

Vom 14.02. bis 13.04.1945 waren beide Geschwister in Retzow/Rechlin inhaftiert.

Beide wurden im April 1945 zurück nach Ravensbrück deportiert und im Rahmen der „Aktion Bernadotte“ vom schwedischen Roten Kreutz am 25.04.1945 befreit.

Rechlin/Retzow

„Hier haben wir zweimal am Tag Appell: einmal gegen 5 Uhr morgens, einmal am Ende des Tages. Beide Appelle sind aber wesentlich kürzer als in Ravens•brück.“ Die Blöcke bestanden aus kleineren Räumen, „wesentlich angenehmer als die großen Schlafsäle“ in Ravensbrück. Die Suppe schien am ersten Tag dicker zu sein. „Im Grunde genommen scheint die Veränderung für uns vorteilhaft zu werden.“ (S. 109) Maisie beschreibt den Kommandanten, der den Neuankömmlingen eine Pause vor dem Beginn der Arbeitsverteilung gönne, in fast ironischer Weise als „zuvorkommend“.

Das erste Arbeitskommando war Gruben ausheben. „Die Arbeitsverweigerinnen wurden in den Block 6 geschickt und von da, nach einigen Tagen, Richtung Ravensbrück transportiert.“ (S. 110) Von topographischer Bedeutung, in Hinblick auf ihre historische Rekonstruktion, ist die Erinnerung von Renault an die Duschen und Effektenkammer. Sie werden ca. 2 km entfernt von den Baracken des Lagers beschrieben. Dort wurden die Effekten durchsucht und von den Aufseherinnen teilweise beschlagnahmt. Zum Waschen gab es keine Seife, sondern Waschpulver in einer Kiste und keine Handtücher. Nach der Dusche mußte die erste Gruppe von Frauen naß und nackt in der Kälte auf die zweite Gruppe warten, damit alle gemeinsam in die Blocks zurückkehren.

Bald schon veränderte sich der Eindruck von Maisie Renault über das neue Lager.

„Närrinnen diejenigen, die gedacht hatten, Rechlin sei ein Erholungslager!“ (S. 112) So beschreibt M. Renault die Arbeits-Kommandos in Rechlin: „(…) der Weg, dem wir folgen, läuft durch das Luftfahrtlager; dieses scheint sehr weitläufig zu sein, denn wir müssen lange marschieren. Viele Flugzeuge stehen da. Die Kolonne bleibt stehen: um uns herum lauter militärische Arbeitsräume, Küche (...), ständige Hin- und Herbewegungen von Fliegern zwischen den Baracken; wir stehen mitten in diesem Lager.“ So wurden die Arbeitskolonnen in Mannschaften eingeteilt, jede wurde mit einem Spaten versehen. Die Mannschaften wurden wiederum in kleine Gruppen im Flugzeuglager verteilt. M. Renaults Gruppe arbeitete auf einer eisigen, dem Wind preisgegebenen Ebene. „Eine tonige Erde, die wir graben müssen, um eine Aushöhlung zu bohren, wohin ein Flugzeug Platz findet.“ (S. 112).

Die Frauen erhielten keine Mittagspause „die Suppe wird erst nach der Rückkehr ins Lager verteilt, gegen halb 5 Abends, der Arbeitstag findet in einem zug statt.“ (S. 113) „Im Laufschritt begeben wir uns in Richtung Lager, mühsamer Marsch durch diese vom Wind gepeitschten Ebene.

(…) Die Suppe wird auf dem Hof verteilt nach langem Warten und kaum haben wir sie verschlungen, müssen wir erneut zum Appell. (…) wir möchten uns waschen, doch die Wasserleitungen sind geschlossen. Allmählich werden wir feststellen müssen, daß es nur nachts möglich ist, sich zu waschen.“ (S. 115)

Alle Arbeitskommandos befanden sich im Flugzeuglager, jedoch wurde die Arbeit jeden Tag an einer anderen Stelle verrichtet. Die Arbeit war für die Frauen sehr erschöpfend. „Über alles fürchten wir die großen Aushebearbeiten. Wenn die Graben eine gewisse Tiefe erreichen, ist es sehr anstrengend, den Sand bis ganz oben zu werfen.“ (S. 115) (…) „und die Tage scheinen noch länger zu sein, wenn der Regen ohne Unterbrechung auf unsere gebeugten Rücken fällt.“ (…) „Nie in Ravensbrück haben wir so viele Flöhe gehabt.“ (S. 116) Die Französinnen versuchten stets in den Arbeitskolonnen zusammenzubleiben. Renault nennt dies eine „Koalition“, über die sich die weiblichen Kapos („Große Kapo“ Maria) aufregten.

Maisie Renault kam in ein neues Arbeitskommando. Dort mußten sie aus einem Zugwagen riesige, schwere Kisten (mit Lufttorpedos [?]) gefüllt, ausladen. „Zwar ist unsere Arbeitsstelle gut, denn wir sind von den Wetterverhältnissen geschützt, doch die Arbeit ist äußert hart.“ (S. 117) Das nächste Arbeitskommando nannte sich (Erdschollen Kommando), der Kommandant wünschte sich Gärten um die Blocks herum. (S. 119) Auf einer Wiese in der Nähe des Lagers wurden große Erdschollen ausgeschnitten; die Häftlinge mußten sie dann in das Lager zu den Baracken tragen. Dort wurden sie von einer anderen Kolonne nebeneinander gelegt. „Nach zwei oder drei Tagen ist das Gras der ersten Schollen bereits völlig verwelkt.“ (S. 119)

Den Erinnerungen von Maisie Renault läßt sich entnehmen, daß sich bald sehr große Hoffnungslosigkeit und Resignation im Lager breit machte. Die Frauen waren von jeglichen Informationen der Außenwelt abgeschnitten. Im Gegensatz zum Informationssystem der Häftlinge in Ravensbrück gab es keinerlei Nachrichten über den Kriegsverlauf, über ein nahendes Kriegsende oder Informationen aus den Herkunftsländern.

Resigniert schreibt sie über die Durchhalteparolen der Deutschen: auf den Baracken des Flugzeuglagers stehen Parolen in großen weißen Buchstaben geschrieben: „Wir werden den Krieg gewinnen“ und „Unserem Führer müssen wir vertrauen!.“ (S. 120)

Die Lebensbedingungen verschlechterten sich in Retzow zunehmend. Volle Belegung der Baracken, viele Häftlinge mußten auf dem Boden schlafen. Viele Frauen schafften es nachts nicht bis in den Waschraum zu den Toiletten. Am nächsten Tag waren die Gänge voller Schmutz. Kranke Frauen wurden in den Block 6 – „einer riesigen Halle“ – überstellt und teilweise zurück nach Ravensbrück deportiert.

(Dem Bericht von Renault sind durchgängig starke Ressentiments gegenüber anderen Häftlingsgruppen zu entnehmen.

Aus welchem Grund dies geschieht, bedarf einer vollständigen Übersetzung und einer genauen Analyse des biographischen Textes sowie der Biographie von Maisie Renault.)

Sie schreibt über Sinti/Roma Frauen, daß diese ständig denunzierten und den schlechten körperlichen Zustand der Häftlinge. Sie schreibt das den jüdischen Häftlingen zu, die nach ihrer Beschreibung Verwaltungsaufgaben im Lager hatten.

„Viele unserer Kameradinnen sind gestorben und wir sind alle in einem kläglichen Zustand. Die Lagerverwaltung liegt in den Händen ungarischer Jüdinnen, welche einige Zeit vor uns hier angekommen sind und alle Leitungsposten einnahmen. Sie sind zuständig für die Verteilung von Nahrung und nie, selbst in den schlimmsten Tagen von Ravensbrück, wurde so dermaßen gegen uns verstoßen. Die Suppe wird erst dann verteilt, wenn sie lange geruht hat, die helle Flüssigkeit wird dann knausrig verteilt und wir müssen zusehen, wie sie die Teller voller Gemüse essen; das Brot, die Wurst und den Weißkäse. Beides wird uns zweimal die Woche zugeteilt, alles wird gekürzt. Die Deutschen hatten schon das Minimum vorgesehen um uns gerade am Leben zu erhalten, bei diesem Regime aber sind wir ausgehungert.“ (S. 122) Sie hofft, daß „eines Tages sich die Russinnen bei der Lagerleitung beschweren“ werden, die Verteilung des Essens wird dann direkt in den Küchen stattfinden und wird gehaltvoller sein. Leider wird das erst kurze Zeit vor unserer Evakuierung geschehen und die meisten werden bereits verhungert sein. Anderthalb Monate in Rechlin hat uns alle unkenntlich gemacht.“ (S. 123)

(An dieser Textpassage verdeutlicht sich das Dilemma, eine Biographie zu dechiffrieren. Einem anderen Erinnerungsbericht, ebenfalls von einer Französin, ist über Retzow zu entnehmen, daß ca. 1.500 jüdische Frauen im Februar 1945 unter menschenunwürdigsten Bedingungen in Retzow inhaftiert waren und speziell sehr schlechte Überlebensbedingungen hatten.) Anm. A. M.

Renault wurde im März 1945 einem neuen Arbeitskommando zugeteilt, dem sogenannten Waldkommando. Der Weg zum neuen Arbeitseinsatz wich vom Flugzeuglager ab. Nach 2 km lief das Kommando über eine Wiese, vorbei an einem Wald, dann entlang am See mit einer wackelnden Holzbrücke, danach auf einem langen Sandweg, zwischen Wiesen „in der Ferne können wir einen kleinen Bauernhof mit rotem Ziegeldach sehen.“ (S. 123)

Auf einer großen Ebene lagen 1 – 1,5 m lang abgeschnittene Stämme junger Bäume.

Nach 10-minütiger Pause mußte jeder Häftling einen Holzstamm zurück ins Lager tragen, auf der Schulter. Hin und zurück betrug der Fußmarsch ca. 20 km. „Wie ein riesiger Kreuzweg“ (S. 125) „Mein Gott, wie beklagenswert sind wir“. (…) Auf dem Rückweg haben „Russinnen versucht zu flüchten: Sie hatten um Erlaubnis-gebeten, sich hinter Bäumen zu verstecken, um ihre Bedürfnisse zu erledigen.

Dadurch ist der Abendappell sehr lang, die armen Frauen wurden wieder geschnappt – doch alle Russinnen wurden aufgerufen und kahlgeschoren.

Seitdem ist es strengstens verboten, sich aus der Kolonne zu entfernen“ (S. 127). „Eine Art Stumpfsinn hat uns überfallen. Wir wissen nichts von der Kriegslage und sind niedergeschlagen vor lauter Hunger und Müdigkeit. (…) Viele pflücken Löwenzahn auf der Arbeitsstelle (…) Isabelle versuchte es den Polinnen nachzumachen, indem sie Brennnessel essen wollte. Doch nicht so einfach.“ (S. 129) „Der Frühling naht. Dafür sind die Nächte und die Dämmerung noch sehr kalt. Nun sind die zu tragenden Holzstämme viel dicker geworden und müssen zu zweit getragen werden.“ (S. 131) „Die Frauen schwitzten unter ihren Mänteln, doch konnten sie auf diese morgens nicht verzichten.

Heute Morgen habe ich festgestellt, daß ich nicht mehr laufen kann.“ (S. 133)

Maisie Renault tauschte ihren Löffel gegen eine halbe Ration Brot. „Wir sind nun mehrere, die die Treppen zum Block nicht mehr hochsteigen können. Um es zu schaffen, müssen wir unsere Beine, einen nach dem anderen, mit unseren Händen hochheben. Trotz allem müssen wir jeden Tag viele Kilometer lang hin und her marschieren, wie mechanisches Spielzeug, dessen Feder jede Sekunde zu knallen droht.“ (S. 136)

10. April 1945: „Heute Morgen hoben wir eine Grube an der Grenze zum Flugzeuglager aus. Auf der naheliegenden Piste stehen mit Munition gefüllte LKWs, Flugzeuge und Flugzeugträger. Plötzlich Fliegeralarm.“ (S. 137) „(…) eine Kolonne versteckt sich unter den Bäumen, mit dem Spaten auf dem Kopf.“ (S. 138) Ca. 100 m davon entfernt explodieren Granaten und Bomben. Die Alliierten warfen auch Flugblätter ab. Einige wurden von den Häftlingen versteckt. Viele Arbeitskolonnen mußten zurück zum Flugzeuglager „lange Zeit noch müssen wir (…) den verstreuten Kies sammeln, um mit ihm die Bombenkrater zu füllen.“ (S. 140)

Wegen der Dunkelheit mußten die Kolonnen zurück ins Lager. Am nächsten Tag die gleiche Arbeit. „Es hat geregnet, ab und zu explodierte ein Langzeitzünder, wir legen uns in den Schlamm. (…) Zwei Tage lang müssen wir diese Fließbandarbeit tätigen“

(S. 140) „(…) Wir sehnen uns danach, wieder in den üblichen Arbeitszeiten zu

arbeiten, die Ruhestunden werden kurz gerechnet. Wir sind ohne Unterbrechung geplagt und erreichen bald den höchsten Grad der Erschöpfung. (…) Alle Häftlinge ohne Ausnahme wurden mobilisiert, alle Lagergeräte benutzt.

(…) Unsere Spaten sind sehr schlecht fixiert und drehen sich die ganze Zeit; kaum haben wir noch Kraft, sie in die Erde zu drücken. (…) Verzweifelte Energie der letzten Momente. (…) die plötzliche Nachricht verbreitet sich: das Lager wird evakuiert, wir fahren zurück nach Ravensbrück. (…) Und das Gerücht wächst: die Französinnen werden getauscht, sie werden repatriiert. Diese Nachricht ist so wunderbar, daß wir zuerst nicht wagen daran zu glauben.

Doch unsere Beutel werden durchsucht: es ist verboten, andere Kleidung, als die, die wir tragen, mitzunehmen.“ (S.141) Die Französinnengruppe und ebenso eine Gruppe russischer Häftlinge wurde zurück nach Ravensbrück gefahren. Nach ihrer Ankunft gingen sie in den Strafblock, ohne vorher duschen zu müssen. „Das ist nicht normal und wir schöpfen wieder Hoffnung“ (S. 142) „Alle Frauen aus Rechlin sahen erschreckend aus mit ihren schwarzen Gesichtern und ihren fiebrigen Augen.“ (S. 145)


Am 25. April wurde Maisie Renault und ihre Schwester von Angehörigen des Schwedischen Roten Kreuzes befreit und gelangten über Lübeck, Dänemark und Schweden wieder zurück nach Frankreich.


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KZ – NEBENLAGER RETZOW

KRIEGSGEFANGENEN- UND FREMDARBEITERLAGER



3. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter – Sklaven für die Verwirklichung der Rüstungspolitik der deutschen Luftwaffe in Rechlin

Mit zunehmender Schärfe des Krieges, der Besetzung fast aller europäischen Staaten durch die deutsche Wehrmacht und der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 verschärfte die Arbeitskräftesituation auch in Rechlin. Kriegsgefangene und zunehmend Zwangsarbeiter wurden auf der E-Stelle eingesetzt.

Die territoriale Verteilung sah folgendermaßen aus:

Retzow

  • 150 englische,
  • 150 polnische Gefangene;
  • 400 italienische Gastarbeiter und
  • 200 italienische Badoglio-Gefangene; Engländer und Italiener waren kurze Zeit hier;

Boek

  • 15 polnische Gefangene;

Zietlitz

  • 50 französische,
  • ? sowjetische Gefangene; Beseitigung von Schäden auf dem Schillerdorfer Bombenplatz und Blindgänger entschärfen;

Vietzen

  • ? sowjetische Gefangene,
  • ? sowjetische Ostarbeiter (Ukrainische Frauen);

Klopzow

  • ? sowjetische Gefangene;

Ellerholz

  • ? sowjetische Gefangene;
  • 30 sowjetische Ostarbeiter
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Die Barackenlager in Vietzen.

Über das Leben, den Einsatz der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter ist wenig bekannt. Es bedarf weiterer Forschungen.

Bei unseren Recherchen stießen wir auf einen Mordfall.

Die ledige Russin, Katja Formina, geboren am 25.11.1923 im Kreis Stalino, wurde am 16. Januar 1944 auf der Feldmark Lärz durch einen Landsmann und einen Polen ermordet.
Am 7. März 1944 wurden in Lärz um 12.00 Uhr drei russische Ostarbeiter und ein polnischer Zivilarbeiter erhängt.

Die Ermordete als auch die Erhängten arbeiteten in der Landwirtschaft des Ortes Lärz und der Domäne Gaarz.

Ein Zeitzeuge schilderte uns Autoren diesen Vorgang, sodaß wir ihn in dieser Auflage präzisieren können.

„Zwei russische Ostarbeiter und ein Pole stahlen bei einem Lärzer Bauern Mettwürste und 1 Räucherschinken. Einer der Russen hieß Vladek und wohnte mit seiner Mutter in Neu Gaarz. Die ermordete Russin arbeitete bei dem bestohlenen Bauern und verriet den Diebstahl. Der Lärzer Polizist Liersch verhaftete die drei und der dortige Bürgermeister und zugleich Ortsbauernführer mit Namen Bellmann sorgte für ein Schnellverfahren. Der Hinrichtung mußten die Einwohner und Schüler von Lärz beiwohnen.

VI. Die vielen „Helfer“ und Kriegsgewinnler der Erprobungsstelle, die besondere Rolle des Herrn Dr. hc. Kurt Hermann

„Meier“ wollte er heißen, wenn ein feindliches Flugzeug Deutschland überfliegt.

Diesen ehrenden Namen erhielt Hermann Göring nicht. Dagegen verurteilte ihn das Nürnberger Kriegstribunal 1946 zum Tode – als Kriegsverbrecher. Der Henker konnte ihn den Strick nicht mehr um den Hals legen. Er beförderte sich selbst ins Jenseits, mit einer Giftampulle.

Zuvor schickte Göring jedoch seine Piloten, Funker, Bordschützen und Mechaniker sowie Millionen Menschen ins dunkle Grab, sofern sie noch eins bekamen.

Göring war oft Gast in Rechlin. Hier traf er sich mit den Chefs der Flugzeugwerke und des Motorenbaus. Hier fielen die Entscheidungen zum Bau von Kampfflugzeugen und deren Gerät, die ohne Zweifel den Höchststand der Kampftechnik in der Welt entsprachen.

Vom letzten Kommandeur des Richthofen-Geschwaders im Ersten Weltkrieg avancierte er zum Oberbefehlshaber der Deutschen Luftwaffe im Dritten Reich.

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Angeblich liebte der Marschall auch den deutschen Wald und die darin lebende und webende Natur.

Als Reichsforstmeister war er Treuhänder des deutschen Waldes und als Reichsjägermeister der Schirmherr der deutschen Jagd. Diesen Posten nahm er weidlich wahr.

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Deshalb konnte auch das Ackerland des Leppiner Bombenplatzes zur Unerkenntlichkeit zerbomt werden. Deshalb konnte auch der herrliche Wald des Schillersdorfer Bombenplatzes gerodet und das Ostufer der Müritz zum Tummelplatz seiner Luftwaffe werden.

Hier auf den Bildern sehen wir das Federower Gutshaus und Göring im Kreis seiner Vertrauten.

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Sein alter Kamerad aus dem Richthofen-Geschwader hatte es ihm angetan.

Dr.h.c. Kurt Hermann war Besitzer des Gutes Federow seit 1928. Schwarzenhof, Damerow und Speck kamen 1929 dazu. In den Wäldem von Speck, es waren 4722 Hektar, veranstalteten beide Hermann’s große Jagden. Auch Udet, Student, Milch und Oberst Hagen waren dabei. Letzterer stürzte bei Versuchsflügen mit dem „Stuka“ Ju-87 einige Male ab.

Das „Hirschfieber“ packte sie, wenn es in der Kiefernheide auf Pirsch ging. Rudel mit 60 bis 70 Hirschen im Revier waren keine Seltenheit. Auch ein großes Gatter mit Wisenten und Elchen lockte die Gäste an.

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Ein weiteres Jagdgebiet besuchte Göring. Im Eldenholzer Wald, dort wo Halb- und Fertigteile für die Flugzeugindustrie hergestellt wurden.

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In der Nähe des Gästehauses der „Memefa“, nach 1945 als Kinderkrankenhaus bekannt, ließ der Federower Hermann für den Reichsmarschall einen Pferdestall errichtete.

Die Wandfliesen sind heute noch zu sehen. Obwohl Göring Sporen an seinen Stiefeln trug, konnte das Pferd ihn nicht tragen. Fotos in dieser Aufmachung verbot Hitler übrigens.

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Dr.h.c. Hermann öffnete seine Taschen rechtzeitig. Er war sehr großzügig. Von 1933 bis 1944 kam eine Spende von rund 7.248.000 RM zusammen. Bereits im Juli 1933 überreichte er bereits speziell für die Anlage des Flugfeldes Rechlin 100.000 RM.

Dr.h.c. Hermann blieb im Hintergrund. Die Nationalsozialisten besorgten seine Geschäfte mit. Er war wohl ein kaltblütiger Rechner. Er sah seinen Weizen blühen.

Einmal, es war am 10.6.1939, kam Dr.h.c. Hermann in arge Verlegenheit. Ein eifriger Obersteuerinspektor, der sich die Geschäftsgebaren und -bücher von Hermann ansah, war der Urheber. Er war genau, er entdeckte in Hermann einen großen Betrüger.

Ohne zu ahnen, daß er hier in ein Fettnäpfchen trat, erwirkte er einen Haftbefehl wegen Betruges und Steuerhinterziehung. Ein dringendes Gespräch ging nach Berlin, zum Luftmarschall. Der Inspektor wurde sofort mit einer Sondermaschine nach Berlin geholt, von der SS verhört und dann seines Amtes enthoben.

Dr.b.c. Hermann übte hohe Posten aus, wenngleich er nicht das Parteiabzeichen seiner Gönner trug. In den „Deutschen Flugzeugwerken“ Leipzig, der „Flugzeugwerke Lübeck/Travemünde“, der „Flugzeugwerke Johannisthal“ und der „Deutschen Motorenbaugesellschaft Berlin-Marienfelde“ war er Generaldirektor.

Dr. Hermann erhielt Speck/Federow nach „Vorarbeit“ von Forstmeister Tolzin billig gekauft. Dem damaligen Besitzer, einem Berliner Industriellen und Makler, Herrn Schimmelpfennig, wurde ein überaus starker und deshalb auch kostspieliger Wildverbiß in den Revieren vorgetäuscht. Die Waldarbeiter mußten auf Geheiß des Forstmeisters die jungen Triebe abknipsen. Dieser Schaden wurde Schimmelpfennig teuer.

Jagdfeste wurden in Speck recht häufig und mit großem Aufwand gefeiert. Vor dem Schloß wurde die Strecke zusammengetragen, vor der sich in herrschaftlicher Pose die Herren aufbauten. Abends begann das große Jagdgelage.

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Dr. Hermann stimmte in seinen Briefen, die er an Hitler richtete, ein „treudeutsches“ Loblied an. Einmal schrieb er:

„Ich spende in jedem Jahr 600.000 RM und möchte zum Ausdruck bringen, daß ich restlos zum Führer stehe. 60.000 Volksgenossen erhalten bei mir ihr tägliches Brot.“ In einen anderen Brief schreibt er:

„Mein Führer!

Beiliegend gestatte lch mir, Ihnen einen Scheck über 100.000 RM ergebenst zu überreichen mit der Bitte zu Wohlfahrtszwecken nach eigenem Ermessen verwenden zu wollen. Ich bitte Sie, mein Führer, meine Wünsche für Ihr ständiges Wohlergehen und ihre Gesundheit entgegennehmen zu wollen.“

Ihr Ihnen treuergebener (Unterschrift)

Dr.h.c. Hermann war Besitzer vieler Betriebe und Einrichtungen:

Der 1928 mit 3 Gesellschaftern gegründete Universal-Verlag Berlin besaß 1936 nur noch 2 Gesellschafter und 1941 war Hermann alleiniger Inhaber. Der Musikverlag Peters in Leipzig und die Goldschmiedewerkstätten der Gebrüder Friedländer in Berlin, beide waren Juden, ging in seinen Besitz über. Er besaß weiter u.a.:

  • Verlagsabteilung Leipzig, Redaktion Berlin;
  • Anzeigenverwaltung Berlin;
  • Schnittmusterabteilung Leipzig;
  • Grundstücksverwaltung Leipzig mit etwa 30 Häusern;
  • Versicherungsabteilung Leipzig;
  • Universal-Addition Wien;
  • Hoffmeister-Verlag Leipzig;
  • Braunschweigische Lebensversicherungs-AG mit einem Kapital von 100 Millionen Reichsmark. Hinzu kam noch das Rittergut Kobershain, Kreis Torgau mit 1200 Morgen.

Über Göring war Dr. Hermann mit Goebbels bekannt. In einem Brief vom 7.2.1937 schrieb der Sohn Heinz Hermann an seinen Vater, daß er freundschaftlich in Berlin von Göring empfangen worden sei und das er an einem Empfang bei Goebbels teilnehmen werde.

In Europa wütete der Krieg. Polen, Frankreich, Holland, Belgien, Dänemark, Norwegen, Jugoslawien, Griechenland – ja halb Europa fiel den Nationalsozialisten zum Opfer. Die Länder wurden ausgeplündert.

Dr. Hermann reiste, wie aus Unterlagen der Jahre 1940/41 hervorgeht, vor allem nach Holland, Belgien, Frankreich und Italien. Keine Zivilperson durfte nach den damaligen Bestimmungen, daß Reich verlassen. Häufig machte er in Amsterdam Station, so am 6.6. bis zum 20.6.1940 und vom 22.7. bis zum 26.7.1940. Dann war er in San Remo, Bordigkera, Brüssel und Paris. Von hier brachte er Göring ein DiamantGeschenk im Wert von 50.000 RM mit.

Bei diesen Reisen knüpfte er etliche Verbindungen, vor allem zur Schweiz. Hierher soll er Teile seiner Beute in Sicherheit gebracht haben. Am 28.10.1942 gründete er in

Italien eine Gesellschaft unter dem Namen „Continental-AG“. Sie bestand aus 11 italienischen Staats- und 7 Privatwerften, die ein Stammkapital von 3 Millionen Lire besaßen. Dr. Hermann wurde ihr Präsident. Er besaß 45 % der Aktien. Die Gesellschaft beschäftigte etwa 38.000 Arbeiter.

In den Jahren 1940 bis 1944 erzielte Dr. Hermann einen Reingewinn von 18,8 Mill., davon im Jahre 1944 allein 4.826.000 RM. Von 1933 bis 1944 spendete er 7.248.000 RM – eigens für Rechlin. Wurde er deshalb nicht „gebeten“, sein Gut an das Deutsche Reich, wie alle anderen Landwirte und Bauern der Rechliner Region, zu verkaufen? 1938 ernannte man Dr. Hermann zum Preußischen Staatsrat und 1940 verlieh Hitler ihm das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse, auf Vorschlag Görings.

Als sein „Führer“ sich aus dem Leben stahl, rückte Dr. Hermann ebenso feige in die Schweiz aus. Drei Jagdflugzeuge, die seine Wertgegenstände abtransportieren sollten, standen für ihn bereit. Sie konnten nicht mehr starten. Die Luft war zu „heiß“. Sein Fluchtweg ist uns nicht bekannt, in Liechtenstein kam er jedoch an.

Nun nahm er seine Liechtensteiner Staatsbürgerschaft wahr. Die Ortsvorstehung Eschen des Fürstentums erteilte ihm, seiner Ehefrau Emma Agnes sowie seinen beiden ehelichen Kindern Karl-Heinz und Jutta am 28. Oktober 1931 den Familien-Heimatschein. Ist Dr. Hermann nunmehr Bürger zweier Staaten?

Heute stellen die Erben Restitutionsansprüche an den gesamten Besitz. Er war ja Liechtensteiner. Bisher ohne Erfolg.

Das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern in Greifswald verkündete am 06.06.1997 die Abweisung der Klage von Frau Ursula Hermann aus Vaduz/Liechtenstein gegen den Landrat des Landkreises Müritz wegen Rückübertragung ehemaligen Besitzes Dr. Hermanns in Federow. Auch der Fortbestand der deutschen Staatsbürgerschaft nach 1931 ist streitig und rechtlich nicht geklärt.

VII. Die Erprobungsstelle Rechlin kämpft bis 5 Minuten nach 12

Die „Blitzkriege“ waren endgültig vorbei. Deutschlands Heere wurden in ihre Ausgangsstellungen zurückgeworfen. Der Krieg setzte sich nun auf deutschem Boden fort.

Auch die Lufthoheit ging an die Allianz über.

Die Existenz der E-Stelle Rechlin war der amerikanischen Luftaufklärung seit längerem bekannt. Den ersten Angriff erlebte Rechlin in den Morgenstunden des 24.Mai 1944.

Berlin war das Ziel der 1. und 3. Bomberdivision der 8. US-Luftflotte. 616 Boeing B-17 starten zum Angriff auf den Stadtbezirk Kreuzberg. 13 B-17 verlieren durch diesiges Wetter ihren Verband und werfen über Rechlin 125 Sprengbomben des Typs 500-1b-ab.

Am 25. August 1944 trifft Rechlin ein zweiter Schlag. 179 B-17 überfliegen Rechlin von West nach Ost, drehen über Trollenhagen-Tutow und fliegen Rechlin um 12.45 Uhr aus Südost an. Von 12.49 Uhr bis 13.11 Uhr werfen sie 395 Tonnen Bomben ab. Der Angriff fand an dem Tag statt, an dem die Flakbatterien turnusmäßig ausgewechselt wurden.

Eine Batterie war zu diesem Zeitpunkt gerade beim Verladen.

Als Flakbesatzungen setzte man bereits zum großen Teil Lehrlinge und Oberschüler ein. Bei dem Angriff kamen 9 Angehörige der E-Stelle, davon 3 Stabshelferinnen und ein italienischer Gastarbeiter ums Leben. 8 amerikanische Kampfflugzeuge wurden getroffen und gingen irgendwo brennend zu Boden.

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Herr Günter Dohse aus Waren erlebte den Bombenangriff am 25. August 1944 als Luftwaffenhelfer mit. Er erinnert sich:

„Als 16-jähriger befand ich mich in Waren als Maler in der Lehre. Wir wurden aufgerufen, unseren Beitrag zur Verteidigung des Vaterlandes zu leisten. Auf dem Schulhof der ehemaligen „Dietrich Eckart“-Schule, der heutigen, „Goethe-Schule“, trafen wir uns und waren begeistert. Einige Tage später fuhren wir mit dem Zug über Neustrelitz-Mirow nach Lärz. Dort waren wir schon einige Tage in Ausbildung. Plötzlich ertönten die Sirenen zur Verwarnung. Unser Ziel waren die nahegelegenen Splittergräben.

Über uns flogen die Bomber, in Wellen kommend, auf die Abteilungen der E-Stelle in Rechlin zu. Die 8,8 cm Batterie am Sprott’schen Berg eröffnete als erste umgehend das Feuer. Wir hörten und sahen den Einschlag der Bomben und das Geschützfeuer. Das erste Mal erlebte ich einen Luftangriff. Panische Angst saß mir und meinen gleichaltrigen Kameraden in den Knochen. Wir waren froh, als Entwarnung gegeben wurde.

Nach der Ausbildung wurde ich an der 2 cm Flak in Lärz, an der Vierlingsflak in Retzow und an der 3,7 cm Flak auf dem Flugplatz Lärz eingesetzt. Hier erlebte ich den Tiefangriff feindlicher Jagdflugzeuge auf dem Flugplatz Lärz am 4. April 1945. Es war mein erstes Feuergefecht. Die Geschosse der Bordkanonen der anfliegenden Maschinen störten uns nicht mehr. Jeder von uns war bei der Sache. Ich war trotz der Gefahr bereit, mein bestes zu geben. Die Folgen dieses Krieges waren mir zu dieser Zeit nicht bewußt.“

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Das Leben und die Erprobung der neuen Maschinen und Geräte geht weiter.

Am 6. Dezember 1944 erfolgte der Erstflug des Strahlflugzeuges Heinkel He 162 „Salamander“, „Volksjäger“ genannt.

Einige Tage später bestaunte man in Rechlin einen „Kleinstjäger“. Speer verkündete, daß dieser Strahljäger deutsche Städte vor dem Untergang retten soll. 116 Maschinen, die in 6000 Meter Höhe eine Geschwindigkeit von 835 km/h erreichten, liefen in den Werken bis Ende des Krieges vom Band.

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Am 31. Dezember 1944 wurde in Rechlin das „Erprobungskommando He-162“ aufgestellt. Zum Einsatz gelangte es nie. Die militärische Niederlage Deutschlands war abzusehen. Bereits im Herbst 1943 kam aus Kreisen der Luftfahrtforschung und einigen fanatischen Piloten der Vorschlag, einen Selbstopferverband aufzustellen, dessen Flugzeugführer sich mit einer Art bemannter Bombe auf die feindlichen Ziele stürzen sollten. Verschiedene Varianten wurden erprobt.

Innerhalb des geheimen Kampfgeschwaders 200 stellte man eine Sonderstaffel von Selbstmordkandidaten auf, zu der sich auch 60 meldeten. Der Staffel gab man den Namen „Leonidasstaffel“. Der spartanische König Leonidas soll bei der Verteidigung des engen Thermophylenpaßes gegen die Perser gewußt haben, daß er stirbt. Diese Legende impfte der Chef der Staffel, Hauptmann Lange der Truppe ein.

Und sie glaubte es.

Im Sommer 1944 reist die Testfliegerin Hanna Reitsch in Begleitung von Otto Skorzeny mit einer „Bücker“ Bü-181 an und landete auf dem Flugplatz Lärz. Ihr Begleiter war kein unbedeutender Mann. Als Sabotage- und Terrorspezialist spielte er im Reichssicherhauptamt der SS eine führende Rolle.

Beide wollen dem Test einer der letzten Wunderwaffen, dem Reichenberg-Gerät beiwohnen. Dieses Gerät entstand folgendermaßen: Die erste „Wunderwaffe“ war die sogenannte V-1, die Fi-103, eine Flügelbombe. Der Antrieb erfolgte durch ein Pulso-Strahltriebwerk und für den Start nutzte man eine Rampe. Später hängte man die Fi-103 unter He-111 Bomber, die sie auf Höhe brachten. Dann zündete man das Triebwerk

und die Flügelbombe begann ihren Flug zum Ziel. Ohne Piloten konnten jedoch keine Punktziele getroffen werden. Das besorgte Skorzeny. Mit Hilfe von Heinkel-Ingenieuren wurde die Fi-103 im SS-Sonderlager Friedenthal so umgebaut, daß sie einem Piloten Platz bot.

Kapitel-VII_Bild-5.jpg Hitler, Göring, Hanna Reitsch

Nach dem Ausklinken fliegt die „Reichenberg-Flügelbombe“ einige Kurven und verliert dann plötzlich in unaufhaltsam steiler werdendem Gleitflug an Höhe. Sie verschwindet im Wald und die Zuschauer, unter ihnen die Reitsch und der Skorzeny, hören eine Detonation und sehen eine Rauchwolke. Hanna Reitsch übernimmt nun die weiteren Testflüge selbst, da sie den Rechliner Piloten nichts mehr zutraut.

Während dieser Flüge erkennt sie, daß es für die zukünftigen Einsatzpiloten kein Überleben gibt. Ein Absprung mit dem Fallschirm aus der engen Kabine und dem dahinter liegenden Schubrohr ist nicht möglich.

Die ganze Aktion wird abgeblasen. Einige Piloten ließen jedoch bei den Versuchen ihr Leben.

Am 1. Dezember 1944 besuchte der Rüstungsminister Speer die E-Stelle und mußte nach einer Vorführung von flugtechnischem Gerät eingestehen, daß es keine „Wunderwaffe“ gibt und auch nicht geben wird.

Der verbrecherische Krieg wurde weitergeführt.

Der Mann, der die deutsche Jugend dann mobilisierte und verheizte, der Reichsjugendführer Artur Axmann, gab dem Magazin „Focus“, veröffentlicht im Heft 17/95 ein Interview.

Daraus folgender Auszug:

„Was hat Sie denn auch jetzt noch an den „Endsieg“ glauben lassen?“

„Einen weiteren Grund sah ich in den angekündigten neuen Warfen. Im Dezember J 944 führte Rüstungsminister Albert Speer in Rechlln eine Vielzahl dieser Warfen vor; die verbesserte Rakete V-2, den neuen Volks]äger und die Düsenllußzeuge, ein Gewehr, daß um die Ecke schießen konnte, neuartige wirkungsvollere Flak-Munition und Kleinst-U-Boote.“

Rechlin verwandelt sich in der letzten Phase des Krieges zu einer Basis für Angriffspläne der Luftwaffe.

In der Nacht vom 8. zum 9. April 1945 sollen die Weichselbrücken im Raum Torun, Warschau und Tarnow bombardiert werden. Dazu erhalten 6 Mistel-Gespanne von Rechlin den Befehl. Sie starten zwischen 01.00 Uhr und 02.00 Uhr vom Lärzer Rollfeld.

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Bei der ersten versagen die Motoren bereits auf der Piste. Es dauert eine Weile, bis das zweite Gespann anrollt. Es gerät von der Startbahn. Schließlich gelangen fünf Gespanne in die Luft. Eine Mistel wird noch vor der Oderfront von einem sowjetischen Nachtjäger angeschossen. Der Pilot sprengt die Ju-88 ab und kehrt nach Rechlin zurück. Der Bomber explodiert irgendwo in Mecklenburg. Bei drei Gespannen funktionierten in der Luft plötzlich die Kraftstoffpumpen zwischen beiden Maschinen nicht mehr. Über Müncheberg springt der erste Pilot ab. Das Gespann verschwindet führerlos in der Nacht. Der zweite Pilot trennt sich bei Güstrow von seiner Mistel und der dritte bei Stade. Eine Kombination erreicht eine Weichselbrücke bei Warschau. Flakfeuer der Roten Armee vereitelt den Anflug auf das Ziel. Weit davon entfernt geht der Sprengstoffträger nieder und detoniert. Dieser unrühmliche Einsatz war auch der letzte in der aktiven Rolle der Eprobungsstelle Rechlin.

Den letzten Rest erhält Rechlin am 10. April 1945.

An diesemTag springt eine polnische Fallschirmgruppe mit dem Decknamen „Wisla“ an der Müritz ab. Ihr Operationsgebiet war besonders das Gebiet Kratzeburg-Wesenberg-Mirow-Rechlin. Sie sprengt eine Eisenbahnbrücke bei Zirtow und klärt die Standorte der Anlagen der E-Stelle Rechlin sowie die Anzahl und Typen der dort stationierten Flugzeuge auf.

Vermutlich hat diese Gruppe dazu beigetragen, daß der nachfolgende Bombenangriff für Rechlin tödlich war. Am gleichen Tag nämlich greift die 8. US-Luftflotte alle Flugplätze im norddeutschen Raum an, auf denen Me-262 stationiert sind.

189 B-24 Bomber greifen Rechlin und 105 fliegen Lärz an. 292,2 Tonnen Sprengstoff und 74 Tonnen Brandbomben fallen auf Rechlin, 232 Tonnen auf Lärz.

56 Flugzeuge sahen die US-Besatzungen auf dem Boden in Rechlin und 18 auf dem Flugplatz in Lärz. Die US-Fliegerdivision erlitt bei diesem Einsatz keine Verluste.

Am 11. und 15. April kreisen amerikanische Aufklärer über dem Gelände und steilen befriedigt fest, daß die „German Air Force Research Station“ weitgehend unbrauchbar gemacht worden war.

Die menschlichen Verluste sind tragisch, halten sich jedoch infolge der getroffenen Schutzmaßnahmen im Rahmen. Zwei Fliegerhauptingenieure, ein Flugkapitän und 6 weitere Angehörige der E-Stelle verlieren ihr Leben.

Noch war Leben auf der E-Stelle Rechlin zu spüren.

Die 2. Weißrussische Front der Roten Armee beginnt am 20. April 1945 mit der Einnahme Mecklenburgs und Vorpommerns. Sie überschreiten die Oder und stoßen u.a. auf unserem Raum zu.

Vorsorglich überführt das Kommando Rechlin eine Reihe von Flugzeugen auf weiter west- und südwestlich gelegene Flugplätze. Aber auch in der Nähe Rechlins werden Behelfsflugplätze angelegt, so bei Rehhof, einem Vorwerk des Gutes Federow, dem Besitz des Dr.h.c. Hermann.

In Kiefernschonungen versteckt, zwischen Speck und Schwarzenhof standen eine Vielzahl von Ju-88 und He- 111. Diese Maschinen sollten hier für die geplanten „Huckepackflüge“ umgerüstet bzw. als Nachtschlachtgruppe 30 eingesetzt werden.

Es mangelte an Benzin. Aus den Einsätzen wurde nichts mehr. Die Rüstungsproduktion war vollkommen zusammengebrochen, für den Rüstungsminister Albert Speer gab es keine Arbeit mehr. Die Tage um den 20. April besuchte er einen Freund auf dem Gut Bad Wilsnack bei Wittenberge. In Berlin tobten erbitterte Kämpfe.

Speer wollte Hitler zu einem letzten Gespräch in seiner Reichskanzlei aufsuchen. In Begleitung seines Verbindungsoffizieres im Generalstab, Oberstleutnant von Poser, kamen beide mit dem Pkw nur bis Kyritz. Nach Westen flutende Wehrmachtsabteilungen und ein endloser Flüchtlingsstrom in Richtung Hamburg behinderten ihre Weiterfahrt. Speer entschied sich, nach Rechlin auszuweichen. Hier kannte er die führenden Leute, hier half man ihm.

Mit einem 2-sitzigen Übungsjagdflugzeug brachte man beide zum Flugplatz Gatow, der am westlichen Stadtrand von Berlin lag. Am 23. April gegen 15.00 Uhr trafen sie hier ein. Zwei bereitstehende „Fieseler“ brachten Speer und Poser bis vor das Brandenburger Tor.

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Die Reichskanzlei war zu einer Festung geworden. Im Führerbunker traf Speer nochmals die Gefolgsleute des Reiches. Generale und Minister, Ärzte und Adjutanten, Ordonnanzen und Leibwächter, Krankenschwestern, Telefonisten und Kraftfahrer irrten hastig in diesem Verließ der Spitzen der Reichsregierung umher. Um 17.00 Uhr verließ Hitler seine Räume das letzte Mal und stand schweigend vor der langgestreckten Terrasse des Mitteltraktes der Reichskanzlei.

Die Hände in den Taschen des dunkelgrauen Militärmantels vergraben, den Kragen hochgeschlagen, die Mütze tief in die Stirn gedrückt. Sein letzter Auftritt unter freiem Himmel. Das dumpfe Grollen der sowjetischen Artillerie schien er nicht mehr zu hören. Kapitel-VII_Bild-8.jpg

An diesem Tag schickt Göring ein Telegramm an Hitler. Er bot sich an, alle Ämter des „Führers“ zu übernehmen. Postwendend entläßt Hitler den Reichsmarschall aus der Reichsregierung. In dieser Atmosphäre trifft Speer auf Hitler, Eva Braun, Goebbels, Bormann und viele andere „Kampfgefährten“.

Der 23. April hatte es in sich.

Der Chef der Führerflugstaffel und persönliche Pilot Hitlers, Generalleutnant Hans Baut verlegte 9 viermotorige Passagiermaschinen „Focke-Wulf“ Fw-200 dieser Staffel vom Behelfsflugplatz Kladow/Havel nach Rechlin, zum Rollfeld Roggentin. Dort stehen bereits Transportmaschinen „Junkers“ Ju-52 und Ju-290 sowie „Fieseler-Storch“, die auch diesem Verband angehören. Die „Führerpiloten“ sehen bei ihrem Eintreffen ein neues Muster, drei sechsmotorige Prototypen „Junkers“ Ju-390, ausgelegt als Langstrecken-Transportflugzeuge. Die Tanks faßten 30.000 Liter Treibstoff, die Maschine besaß eine Reichweite von 18.000 Kilometer. Sie waren einsatzbereit.

An ihr war nicht nur die deutsche, sondern auch die japanische Luftwaffe interessiert.

Mit diesem Typ konnten und wollten sie die Westküste der USA angreifen.

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Die Staffel wurde in Rechlin stationiert, um vor allem Hitler, Goebbels, Bormann, Speer und andere Spitzen der NSDAP, der Regierung und der Wehrmacht auszufliegen und in Sicherheit zu bringen.

Speer z.B. hat sich in seine „Condor“ Zusatztanks einbauen lassen, um nach Grönland zu kommen. Für Hitler und sich bevorzugte Baut den Flug mit einer Ju-390 in das von den Japanern gegründete Kaiserreich Mandschukuo, der nördliche Landesteil Chinas, als Mandschurei bekannt.

Mit einem solchen Prototyp flog ein Pilot im Nonstop-Flug über den Pol nach Japan.

Es war ein streng geheimer Test. Man wollte prüfen, ob dieser Flug überhaupt möglich ist. Auf der E-Stelle Rechlin befanden sich auch die Navigationskarten für Flüge dieser Staffel nach Grönland, Jerusalem, Madagaskar und in das Kaiserreich.

Wie wir wissen, Verübten Hitler und Goebbels Selbstmord, Bormann kam in der Nähe des Lehrter Bahnhofs ums Leben und anderen gelang die Flucht aus Berlin nicht mehr.

Sie gingen in sowjetische Gefangenschaft. Das Unternehmen fiel aus.

Albert Speer verließ die Trümmer der Reichskanzlei am 24. April, 3.15 Uhr. Wieder bestiegen er und Poser die „Fieseler“ am Brandenburger Tor und landeten kurz vor 5.00 Uhr bleich und benommen auf dem Roggentiner Rollfeld. Zur gleichen Zeit waren hier eine Staffel „Me-262“ des Jagdgeschwaders 7, im nahegelegenen Rechlin und auf dem Flugplatz Lärz das Jagdgeschwader 11 mit über 100 „Focke-Wulf“ FW-190 stationiert.

Nochmals macht Rechlin Schlagzeilen.

Am 25. April übermittelt Generaloberst Ritter von Greim aus München eine Nachricht an die TestIpilotin Hanna Reitsch ins Tiroler Kitzbühel. Er bittet sie, mit ihm nach Berlin zu fliegen. Dort will ihn Hitler zum Generalfeldmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe ernennen. Mit einer Ju-52 der „Führerstaffel“ fliegen beide nach Rechlin und starten nach einem kurzen Zwischenaufenthalt noch am gleichen Tag mit einer doppelsitzigen „Focke Wulf“ Fw-190 zum Flugplatz Gatow. 40 Maschinen der in Rechlin stationierten Jagdgeschwader 4 und 11 fliegen als Begleitschutz mit. Von Gatow aus mußten beide zur Reichskanzlei.

Gegen 18.00 Uhr ist nach einigen Pannen der letzte „Storch“, der sich in Berlin befindet, startklar. Greim steuert die Maschine. Ein Panzersprenggeschoß der Roten Armee durchschlägt seinen Fuß. Er wird bewußtlos. Hanna Reitsch übernimmt das Steuer. Aus den Flächen quillt Treibstoff. Kurz vor dem Brandenburger Tor setzt sie die Maschine auf. Der Tank ist fast leer.

Nach dem Zeremoniell bei Hitler werden Greim und Reitsch am 29. April kurz nach Mitternacht mit der einzigen flugtauglichen Maschine der Hauptstadt, einer „Arado“ Ar-96 ausgeflogen. Ihr „Storch“ wurde inzwischen zusammengeschossen, wie das Bild zeigt. Nur noch 400 Meter der provisorischen Start- und Landebahn auf der Charlottenburger Chaussee sind noch frei. Gegen 3.00 Uhr morgens landen beide auf dem Rollfeld Rechlin.

Kapitel-VII_Bild-10.jpg Hier ist der zusammengeschoßene „Fieseler“ vor dem Brandenburger Tor zu sehen.

Der 30. April rückt heran. Rokossowskis Truppen befinden sich bereits im Kreis Waren.

Die Getreuen des Führers feuern die Soldaten immer wieder an, sich nicht zu ergeben.

Hans-Jürgen Gerlach aus Groß Dratow erinnert sich:

„Es war in den letzten Tagen des Krieges im Monat April. Im Gutshaus Federow zog ein Stab der SS-Division „Groß-Deutschland“ ein. Alle leerstehenden Räume mußten dem Stab zur Verfügung gestellt werden. Mein Onkel war hier Inspektor. Seine und unsere Familie hatten hier eine Wohnung. Meine Tante lehnte sich gegen die Belegung ihrer Räume auf. Ihre Bemerkung: „Ist dadurch der bereits verlorene Krieg noch zu retten?“ wurde mit der Drohung einer Einsperrung in ein KZ beantwortet.

Eines Spätnachmittags stand einer der größten Kriegsverbrecher, der Reichsführer-SS Heinrich Himmler mit vielen Offizieren vor dem Federower Gutshaus. In einer mit Rohr gedeckten Futterscheune lagerte funktechnisches und weiteres militärisches Material Kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee sprengte die warfen-SS dieses Gebäude mit einer Panzerfaust in Brand. Durch diese irrsinnige Tat wurden sehr viele Wohnhäuser, weitere Wirtschaftsgebäude und das Pastorenhaus ein Opfer der Flammen.

Ein paar Kilometer weiter liegen die Dörfer Groß- und Klein Dratow. Der Schaf- und Pferdestall in Klein Dratow ging durch Tieflliegerbeschuß in Flammen auf.

Textilien und Schuhwerk der Wehrmacht lagerten im Gutshaus Groß Dratow.

Die abziehende Nachhut der Waffen-SS, von Federow kommend, rollt Benzinfässer hinein und wirft Handgranaten hinterher. Das Gebäude brennt restlos ab.“

Kapitel-VII_Bild-11.jpg Gutshaus Groß Dratow

Das Ende mit Schrecken und die Befreiung Rechlins durch die Rote Armee

Bis zum letzten Tag operierten die Einheiten der deutschen Heeresgruppe Weichsel unter Generaloberst Gotthard Heinrici in unserem Raum. Ihr gehörten die 7. Panzerdivision sowie Reste der 27., 28. und 33. SS-Division an. Auch eine SS-Brigade von freiwilligen Letten befand sich unter ihnen.

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Gejagt wurden sie von den Truppen der 70. Armee unter Marschall der Roten Armee Konstantin Rokossowski. Er befehligte die 2. Weißrussische Front.

In den Morgenstunden des 2. Mai 1945 rückten gegen 6.00 Uhr seine Soldaten in Retzow und gegen 6.30 Uhr in Vietzen und Rechlin/Nord ein. In Vietzen setzten die Letten den Kuhstall in Brand. Die Kirche und der Schweinestall fallen den Flammen ebenfalls zum Opfer, die Vietzener Brücke wird gesprengt.

Aufregung und Angst herrscht in der „Meistersiedlung“ Rechlin/Nord. Ganze Familien, vor allem leitende Mitarbeiter, Oberingenieure und Ingenieure der E-Stelle, ingesamt 40 Personen, begingen Selbstmord.

Zu Kampfhandlungen kam es in der Region nicht. Oberst Daser übergab Rechlin kampflos an die Rote Armee. Er wollte dem Blutvergießen ein Ende bereiten. Bekannt ist, daß von der Roten Armee in Retzow 1 Soldat, in Vietzen 5 Soldaten und 1 Einwohner erschossen wurden. Die Gründe sind nicht mehr nachzuvollziehen.

Die meisten Retzower Bürger verließen das Dorf. Einige Familien gingen in ihre Heimatorte zurück, andere flohen in die Städte und Dörfer der Umgebung.

Alle wollten weg, aus Angst vor Rache wegen des KZ.

Die Masse der Häftlinge der KZ Ravensbrück und Sachsenhausen war am 30. April und am 1. Mai in Richtung Westen – Röbel-Malchow, dem Todesmarsch gen Ostsee – getrieben worden.

Für die in Retzow verbliebenen weiblichen Einwohner mit ihren Kindern drehte sich am Tag der Befreiung alles um das KZ. Schon am Vormittag mußten sie in das Lager.

Ein Offizier der Roten Armee führte sie. Es war grausam. Von den 127 noch im Lager befindlichen waren 56 tot.

Sie lagen schon einige Tage dort, in den Gängen zwischen den Betten und auf ihnen, den Fluren und Toiletten. Sie gingen bereits in Verwesung über. Tagelang lebten die Frauen und Kinder ohne Wasser. Die Küche war funktionslos. So fiel auch das bißchen Verpflegung aus. Es kam zu heftigen Beschimpfungen zwischen den Häftlingen und den ansässigen Frauen. Nur durch das geschickte Verhalten eines jungen Soldaten mit seiner Maschinenpistole kam es zu keiner Konfrontation.

Die Retzower Frauen hatten für Ordnung im Lager und die Verpflegung der noch lebenden Frauen zu sorgen. Viele von ihnen mußten gefüttert werden. Die Kranken wurden gewaschen und in gereinigte Betten gelegt. Die Toten mußten aus dem Lager geschafft und begraben werden. Nach einem Tag voll harter Arbeit war das gröbste getan. Die 71 Frauen, die am Morgen des 2. Mai noch lebten, waren das erste Mal seit langer Zeit wieder als Menschen behandelt worden.

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Der erste Kommandant der Roten Armee in Retzow setzte Karl Wulf, einen Bürger Retzows, der sich zur KPD bekannt hatte, als Leiter im ehemaligen KZ ein. Obwohl er von Beruf Schweizer (Melker) war und in den ersten Tagen nur wenige Mittel zur Verfügung hatte, wurde ihm immer wieder bestätigt, daß er die ihm gestellte Aufgabe sehr gut erfüllt hat.

Er hatte nicht nur alltägliche Probleme zu lösen, sondern mußte auch Frauen versorgen, die nach ihrer Befreiung im Lager noch entbunden haben. So holte er schon einen Tag, nachdem er das Amt übernommen hatte, seine Tochter, die selbst vier Kinder hatte, und bat sie, einer Frau bei der Entbindung zu helfen. Sie raffte Wäsche zusammen und lief zum Lager. Dort konnte sie aber der viel zu schwachen Frau nur noch helfen, sich von einem toten Kind zu befreien und mußte dann zusehen, wie die Frau selbst starb.

Die größten Mengen von Lebensmitteln aller Art, welche in Ravensbrück aus- und im Fahrzeugdepot des Lagers Retzow eingelagert waren, wurden Anfang Mai auf Befehl der sowjetischen Kommandantur wegen hoher Seuchengefahr vernichtet. Diese Lebensmittel durften auf Befehl der Kommandantur des Lagers Ravensbrück in Retzow nicht ausgegeben werden, obwohl viele Frauen buchstäblich verhungerten. Einige Frauen bekamen den Befehl, Lebensmittel, Eingewecktes und so weiter aus dem Dorf zu holen und die Häftlinge damit zu versorgen.

Wann Karl Wulf als Lagerleiter eingesetzt wurde, ist nicht genau bekannt. Aus dem Gesamtgeschehen kann man wohl deuten, daß er am Nachmittag des 2. Mai schon im Amt war.

Die Aktion mit den Konserven wurde abgeblasen, dafür mußten einige Frauen die sechs Kühe, die im Dorf waren, melken, aus der kleinen Dorfverkaufsstelle noch vorhandene Haferflocken und Gries holen und damit in einer Waschküche krankengerechte Suppe zubereiten. Das wurde dann für die Häftlinge nach vielen Tagen die erste Mahlzeit am Tag ihrer Befreiung.

Viele Von ihnen mußten gefüttert werden. Sie konnten allein keinen Löffel heben. Die meisten der Frauen aus dem Dorf mußten die Krankenbaracke reinigen. Dazu wurde Wasser aus Pumpen des Dorfes auf Handwagen herangefahren. Die verstopften Toiletten mußten meist ohne Hilfsmittel gereinigt werden und viel Wasser für ihre Funktion herbeigeschafft werden.

Die toten Häftlinge wurden aus dem Lager geschafft und begraben, die Kranken gewaschen und in gereinigte Betten gelegt.

Die Häftlinge, welche sich noch allein versorgen konnten, verließen das Lager und zogen in leerstehende Wohnungen gegenüber dem Lager.

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Wenn ich den Versuch mache, die Berichte der Insassen des KZ-Nebenlagers Retzow und die Aussagen von Zeitzeugen des Dorfes auszuwerten, komme ich zu dem Schluß, daß es wohl weit über tausend, evtl. tausende, hauptsächlich Frauen waren, die in dem Lager starben oder zum Töten nach Ravensbrück gebracht wurden.

Sie wurden in den drei Massengräbern in Retzow vergraben oder zum Einäschern in das Hauptlager geschafft. Anzunehmen ist auch, daß es nicht wenige waren, die den Marsch in den letzten Apriltagen 1945 nicht überstanden. Anfänglich noch gehfähig, werden wohl viele später erschöpft am Straßenrand liegengeblieben sein.

Dieser Bericht wird wohl nie abzuschließen sein. Keiner weiß, wieviel Frauen hier verstorben sind, die Zahl derer, die zum Töten nach Ravensbrück gefahren wurden.

Es gibt auch keine Zahlen darüber, wieviele Tote ins Hauptlager zum Einäschern gebracht wurden, und auch nicht die Zahl derer, die hier vergraben wurden. Keiner weiß, wo sie alle herkamen.

Es wird wohl nie endgültig nachzuvollziehen sein, warum man diese wehrlosen Frauen zusammentrieb und sie auf so eine Art und Weise tötete. Es wird möglich sein, Berichte von Augenzeugen und andere Aussagen später hinzuzufügen.

Das Gesamtgeschehen kann wohl keiner nachvollziehen.

Im Mai 1945 sind noch I0 Frauen gestorben, die in der Gemeinde Rechlin registriert wurden.

Gustava Klainowa Polin geb. 1925 gest. 19.5.1945
Rekina Leskowitsch Slowakin geb. 1921 gest. 21.5.1945
Katerina Reni Slowakin geb. 1921 gest. 25.5.1945
Lidia Samkowa geb. 1917 gest. 22.5.1945
Sairlianja Slowakin geb. 1921 gest. 25.5.1945
Agneschka Gerschek Jugoslawin geb. 1921 gest. 29.5.1945
Regina Wegl geb. 1925 gest. 27.5.1945
Stefania Oworkirsch Jugoslawin geb. 1923 gest. 23.5.1945
Ernestina Flaischer Slowakin geb. 1916 gest. 23.5.1945
Janina Wolinskaja Polin geb. 1919 gest. 29.5.1945

Die letzte Frau, die in Retzow verstorben ist, war eine Jüdin.

Ihr Name: Fima Gebhart, gest. 27.7.1945. Sie ist auf dem Friedhof in Retzow beigesetzt.

Das Grab wird von Angehörigen der Nebengräber betreut.

Auch das war Rechlin

Der „Bund der Antifaschisten“, Basisgruppe Rostock, veröffentlichte 1994 eine Dokumentation. Sie schildert den Widerstand aus den Kirchen in Mecklenburg 1933 – 1945 gegen den Nationalsozialismus. So auch das Todesurteil des Pfarrers Dr. D. Bernhard Schwentner aus Neustrelitz durch den Volksgerichtshof.

Wörtlich heißt es in der Schrift:

„Besonders richteten sich die Aufmerksamkeit und der Argwohn der Gauleitung der NSDAP gegen den hochgeachteten katholischen Geistlichen Dr. D. Bernhard Schwentner in Neustrelitz. Seine Haltung gegen die Fortführung des Krieges war über die Kirche hinaus bekannt. Um ihn zu überführen, wurde ihm eine Falle gestellt. Ein NSDAP-Mitglied, das aus einer katholischen Familie in Hessen-Nassau stammte und als Monteur in der Heeresversuchsanstalt Rechlin dienstverpflichtet war, suchte Dr. Schwentner auf, um von ihm Antwort und Rat zu offenen Fragen der Gegenwart und Zukunft zu erhalten. Vor allem Dr. Schwentners ablehnende Äußerungen über die Weiterführung des Krieges mit seinen verhängnisvollen Folgen für Deutschland und seine Nachbarn boten der Gestapo den Anlaß. den Pfarrer am 21. Oktober 1943 zu verhaften. Fast ein Jahr wurde ein Prozeß gegen ihn vor dem Volksgerichtshof vorbereitet.

Am 11. September fiel im Ergebnis mehrtäglger Verhandlungen das Todesurteil.

Danach wurde Dr. Bernhard Schwentner in das Zuchthaus Brandenburg-Görden gebracht, wo am 30. Oktober 1944 die Hinrichtung stattfand.“

VIII. Der Todesmarsch der Häftlinge des KZ-Ravensbrück und Sachsenhausen durch die Müritz-Region

Durch den damaligen Landkreis Waren führten 3 Marschstrecken.

30.000 Häftlinge aus dem KZ-Sachsenhausen und über 20.000 aus dem Frauen-KZ Ravensbrück wurden in Richtung Goldberg-Crivitz-Schwerin-Lübeck

zum Tod in die Ostsee getrieben. Auf der Karte sind die Routen dargestellt.

Todesmarsch

Wittstocker Heide – Havelgebiet – Müritz-Region

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Durch den nördlichen Teil des Kreises Waren führte der Weg vom Nebenlager Neubrandenburg über die Stadt Waren zum Nebenlager Malchow als Zwischenstation.

1936 wurde das ehemalige Curt-Heber-Werk in Neubrandenburg vom Reichsluftfahrtministerium übernommen und in „Mechanische Werkstätte Neubrandenburg G.m.b.H.

(MWN)“ umbenannt.

Der Betrieb nahm eine Schlüsselstellung in der Rüstungsindustrie der deutschen Luftwaffe ein. Er produzierte vor allem Bombenabwurfgeräte sowie die Steuer- und Regelgeräte für die V-1.

Das Nebenlager Neubrandenburg des Frauen-KZ Ravensbrück entstand im März 1943 in der Ihlenfelder Straße. Im August 1944 waren hier ca. 2.500 weibliche Häftlinge auf engstem Raum zusammengepfercht. Sie arbeiteten in den MWN.

Frauenkonzentrationslager Ravensbrück

- Nebenlager Neubrandenburg

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Der Lärm der Kämpfe um die Stadt Neubrandenburg war bereits zu hören als die Lagerleitung in den Tagen vom 25. – 27. April 1945 etwa 5.000 – 6.000 Häftlinge auf den Weg in Richtung Malchow schickte.

Ihr Weg in Neubrandenburg führte über die Demminer Straße, durch das Friedländer und Treptower Tor auf die Ausfallstraße nach Waren. Viele Jahre später, am 28. Dezember 1977 schrieb eine Französin an den damaligen Bürgermeister Willi Kietzmann aus Groß Plasten einen Erlebnisbericht.

Hier die wesentlichsten Auszüge:

„… Am 25. marschierten wir den Abend und die ganze Nacht lang. Wir bemerkten, daß wir in Richtung Waren gingen. Am 26. hatten wir eine erste Rast auf einem Acker am Rand der Straße. Ich kann mich erinnern, daß es regnete und das wir trotz Regen und Kälte eingeschlafen waren. Eine weitere Rast mußten wir am 27. in einem kleinen Wald machen. Uns wurde ein wenig Nahrung zugeteilt.

Die Kampfhandlungen kamen näher. Unserer SS-Bewachung ergriff die Panik. Das nutzten wir aus. Am Abend des 27. floh unsere französische Gruppe aus der Kolonne.

Ich glaube es waren 30 Frauen. In einem Wäldchen brachen wir vor Müdigkeit zusammen. Ohne es zu merken, lagen unsere Füße im Wasser. Beim Morgengrauen haben wir beschlossen, nicht dort zu bleiben.“

Unterwegs traf die Gruppe fliehende Wehrmachtsangehörige. Von ihnen erfuhren die Frauen, daß sie die Rote Armee infolge der Kämpfe nicht erreichen würden.

„Wir haben also beschlossen, in das Innenland zu gehen … wir sahen ein Straßenschild, daß zwei mögliche Richtungen anzeigte: Groß Plasten und Klein Plasten.

… drei unserer Gefährtinnen gingen als „Aufklärer“ voraus, … bei Einbruch der Nacht kamen wir in Groß Plasten an. Das Dorf schien ausgestorben zu sein, obwohl einige Fenster erleuchtet waren. Wir haben keine Menschen getroffen.

Plötzlich bemerkten wir, daß ein Haus mit Stacheldraht umzäunt war. … Wir kamen näher und sahen russische Kriegsgefangene … sie gaben uns sofort zu essen, es waren Kartoffeln, nach denen wir gierig mit den Händen griffen. … nachdem wir sie gegessen hatten, versteckten wir uns auf einem Heuboden und empfahlen uns, auf keinen Fall herauszugehen.

In der Nacht hörten wir Schüsse. Am anderen Morgen kamen wir heraus, … das Dorf einschließlich der russischen Gefangenen war evakuiert.

In der Nacht vom 29. zum 30. April kam die Rote Armee. Der Alptraum war beendet, wir waren frei. Wir quartierten uns in einem Haus ein, in dem des „Regisseurs“.

(Gemeint ist das Gemeindebüro.) … Wir bleiben bis zum 10. bzw. 15. Mai in Groß Plasten. Die Anwohner des Dorfes hatten wir immer noch nicht zu Gesicht bekommen.

Wir verließen Groß Plasten, um nach Frankreich zurückzukehren.“

Soweit der Bericht.

Eine weitere Kolonne wurde am 27. April 1945 um 16.00 Uhr im Nebenlager Neubrandenburg in Marsch gesetzt. In Penzlin legte die Gruppe gegen 19.30 Uhr eine kurze Rast ein. Ab 21.00 Uhr übernachteten die Frauen unter freiem Himmel an der Penzliner Stadtmühle und an der Schmortburg. Um die Lagernden gingen die SS-Bewacher mit leichten Maschinengewehren in Stellung. Die Mehrzahl der SS-Aufseherinnen trug unter ihrer Uniform KZ-Kleidung.

Am 28. April um 5,00 Uhr ging es wieder auf den Marsch. Mittags gegen 12.00 Uhr wurde in Neu-Schlön eine Rast eingelegt. Eine Feldscheune diente als Quartier. Um 15.00 Uhr war die Stadt Waren erreicht. Gegen 20.00 Uhr erreichte die Kolonne das Dorf Jabel. Im dortigen Wald übernachteten die Frauen. Am 29. April setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Die gequälten Frauen schleppten sich durch die Nossentiner Heide und kamen nachmittags im KZ-Nebenlager Malchow an. Hier erhielten die Frauen das erste Mal eine warme Verpflegung und Brot. Am 30. April gegen 8.00 Uhr wurde der Weitermarsch in Richtung Schwerin befohlen.

Auf diesem Marsch sollen etwa 700 Frauen ermordet bzw. gestorben sein.

Im mitteren Teil des Territoriums des Kreises führte eine zweite „Todesmarsch“-Strecke.

Vom 27. – 29. April 1945 wurden die Häftlinge des KZ-Ravensbrück in Gruppen zu jeweils 2.500 bis 3.000 Insassen in Marsch gesetzt. Von Ravensbrück aus führte eine Strecke über Groß Menow bis Mirow, die andere bis zur Höhe der Munitionsanstalt Fürstensee nach Mirow. Hier vereinigten sich die Gruppen, um dann wiederum getrennt über Lärz und Vietzen bis Vipperow zu marschieren. Es ist anzunehmen, daß die Retzower Häftlinge diesem Zug von hier aus angeschlossen wurden.

Die Ordensschwester Frau Theodolinde Katzenmaier aus Mannheim befand sich auf diesem Marsch. Am 15. Dezember 1996 schilderte sie uns Autoren ihr Erlebnis:

„Schon bald, als unsere Gruppe aus dem geöffneten Lagertet des KZ-Ravensbrück rannte, schrie die SS: „Raus ihr Sauweiber! Schneller, schneller!“ Viele unserer Halbverhungerten blieben auf dem Marsch liegen. Keiner konnte sich um die auf der Straßen liegenden kümmern. Häftlinge rissen schon „verrückt“ gewordenen SS-Leute ihre Gewehre weg und erschossen sie. Für einen Moment waren wlr frei. In Mlrow gab es in elnem kleinen Lager etwas zu essen und zu trinken. Dann kamen aber weitere Gruppen, die ebenfalls in Richtung Röbel marschierten, bewacht von SS-Leuten. Nun waren wir wieder mittendrin. Beiderseits des Weges lagen viele abgesägte Baumkronen, eine schon zerstörte Brücke lag in Wrackteilen lm See. Immer mehr Häftlinge sammelten sich, suchten Tische und Seile in den schon geplünderten Bauernställen.

Daraus machten wir eine provisorische Brücke über die schmale Wasserstelle des Sees.

Wir sollten weiter, in Richtung Westen. Viele stürzten von der schwankenden Brücke, den nassen Tischen, für immer ins Wasser. Am anderen Ufer stand in Bauernkleidung mit Hut ein großer Mann mit einem Jungen, der eine Milchkanne trug. Er brüllte unentwegt. „Aufpassen, Aufpassen!“

Am Vorabend des 2. Mai erlebten die Röbeler ein ungewohntes, ein schreckliches Bild. Hunderte Frauen in KZ-Kleidung zogen durch die Straßen der Altstadt in Richtung Grob Kelle. Von hier aus ging der Weg weiter nach Hinrichsberg, Lexow, Kisserow, Penkow zum Kloster Malchow. Im KZ-Nebenlager Malchow wurde eine Rastpause eingelegt.

Es diente zu dieser zeit als Zwischenlager. Nach Augenzeugenberichten erhielten die eintreffenden Häftlinge die erste warme Mahlzeit seit dem Abmarsch aus Ravensbrück.

Die Stadtverwaltung Malchow veröffentlichte 1995 eine Arbeit über das „Munitionsund Sprengstoffwerk“ Malchow. Dazu möchten wir einige Ergänzung darlegen, die zur Zeit der Drucklegung noch nicht vorlagen.

An dieser Stelle sei eingefügt, daß in Malchow 1938 mit dem Bau eines Sprengstoffwerkes begonnen wurde. Bereits 1939 wurde der Sprengstoff „Ammonal“ zur Befüllung von Bomben hergestellt.
3.000 t je Monat wurden ausgeliefert. Damit konnten Zünder z.B. für

120.000 SC 50 Minenbomben oder

2.400 SC 250 Minenbomben oder

11.530 SC 500 Minenbomben

produziert werden.

„Nitropenta“, der brisanteste Sprengstoff zu jener Zeit, stand im Produktionsprogramm ganz vorne an.

450 t waren das Monatsprogramm. Damit konnten z.B. die Zünder für

900.000 Geschosse für 7,5 cm Patronen oder

360.000 Schuß für 10 cm Mörsergranaten oder

600.000 Schuß für 3 cm Patronen

hergestellt werden.

Monatlich wurden 500 km detonierende Zündschnüre und 2 Millionen Zündpillen ausgeliefert.

Sie wurden in Geschoßzündern und in Zündhütchen verwendet. Je Patrone braucht man einen Zünder und ein Zündhütchen. Aus 2 Millionen Zündpillen konnte man ca.

1 Millionen Patronen herstellen. Diese Reduzierung ergab sich aus dem zu damaliger Zeit hohen Ausschuß (lt. Wertung amtl. Stellen).

Mitte 1944 begann der Aufbau des KZ-Malchow, einem Nebenlager des Frauen, KZ Ravensbrück.

Im Dezember 1944 arbeiteten hier bereits 5.299 Beschäftigte, davon

  • 887 deutsche Männer und 1.111 deutsche Frauen,
  • 222 „Ostarbeiter“ und 1.085 „Ostarbeiterinnen“,
  • 487 männliche und 1.448 weibliche KZ-Häftlinge,
  • 71 Kriegsgefangene der Roten Armee und 58 weitere ausländische Zivilisten bzw. Kriegsgefangene

Rekonstruktion, Frauen-KZ Ravensbrück

Nebenlager Malchow

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Am 24. April 1995 befanden sich anläßlich des 50. Jahrestages der Befreiung des KZ-Ravensbrück und des Nebenlagers Malchow 15 ehemalige weibliche Häftlinge jüdischer Abstammung aus Israel auf Einladung des Bürgermeisters Joachim Stein in Malchow.

Sie kamen Ende Januar 1945 aus dem Vernichtungslager Auschwitz in das KZ-Nebenlager Malchow und arbeiteten im Munitions- und Sprengstoffwerk Malchow. In einer freundlichen und aufgeschlossenen Aussprache konnten wir die aufgezeichnete Rekonstuktion des Lagers vornehmen.

Die Aussprache ergab:

In den Häftlingsblöcken 4 – 8 befand sich in der Mitte ein Waschraum. In jedem Block gab es vier Aufenthaltsräume. Jeder Raum verfügte über Doppelstockbetten für 45 Häftlinge. In jedem Block lagerten also 180 Frauen; insgesamt 900 Häftlinge.

Die Häftlingsblöcke 9 – 12 waren nicht unterteilt. Sie waren Massenunterkünfte für die steigende Zahl der Häftlinge. Jeder Block faßte etwa 200 Frauen, insgesamt also 800 Häftlinge. Die Frauen lagen auf dem mit Stroh ausgelegten Fußboden. In der Mitte befand sich ein Gang.

In Abständen befand sich ein Hocker mit einer Waschschüssel, in der sich die Frauen wuschen.

Je nach Situation waren diese 4 Baracken überbelegt. Bis zu 2.000 Frauen waren zeitweise in ihnen eingepfercht. In der „Bastelbaracke“ arbeiteten die Frauen nach Feierabend. Aus Stoffresten flochten sie Zöpfe, die zu Fußmatten zusammengenäht wurden. Dafür gab es eine Extraration – Wassersuppe.

Am 29. April 1945 verließen die Häftlinge das Lager in einer großen Kolonne in Richtung Westen. Beim Aufbruch stürmten sie die Magazine.

Sie waren leer.

In Lübz wurden sie befreit,

Im südlichen Zipfel des Landkreises Müritz liegt die Gemeinde Grabow-Below. Die Bewohner dieses Landstriches erlebten die Geschehnisse dieser Todesmarschstrecke.


Todesmarsch Havelland – Wittstocker Heide – Westmecklenburg

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KZ Sachsenhausen

Die Gemarkung, auf der die Gedenkstätte Belower Wald liegt, gehört bereits zum Kreis Wittstock im Land Brandenburg.

Der Ortsteil Below war jahrhundertelang ein Guts-, Grabow ein Bauerndorf.

Das schrecklichste Kapitel in der Geschichte beider Orte wurde in den letzten Apriltagen 1945 mit Strömen von Blut geschrieben. Aus 22 Nationen wurden in Marschkolonnen von 500 Mann, die 30.000 Häftlinge aus dem KZ-Sachsenhausen durch dieses Gebiet bei kaltem und nassem Wetter gejagt. Auch Frauen aus Ravensbrück waren dabei. 10 Mann erhielten 1 Brot und 20 Mann 1 Büchse Fleisch.

Bis die Züge den Belower Wald in den Tagen vom 23. – 28. April erreichten, waren etwa 5.000 Häftlinge unterwegs erschossen, erschlagen und verhungert.

In diesem Wald von Below läßt die SS halten. Hier, in dem am Waldrand stehenden „Hirtenhaus“ und im nahe gelegenen Ort quartiert sich fast die gesamte SS-Lagerführung von Sachsenhausen ein.

Nach kurzer Zeit war im Wald bald mehr als die Hälfte der evakuierten Häftlinge konzentriert. Ein Stacheldrahtzaun wurde um die Lagerstätte gezogen.

Der bei der Ankunft noch in frischem Grün des Frühlings leuchtende Waldboden verlor schnell seine frische Farbe. Junge Brennesseln, Grasspitzen, Rinde, Bucheckern, alles was nur eßbar erschien, wurde verschlungen. Als eine am Waldrand liegende Kartoffelmiete geöffnet wurde, erschoß die SS neun Häftlinge. Im nahe gelegenen Gutshof Below erschoß man Häftlinge wegen eines Schlucks Wasser. Von Zeit zu Zeit durften die Häftlinge Feuer anzünden. Dann kochten sie Gräser, Sauerklee, mit den Fingernägeln abgekratzte Baumrinde, alles mit Wasser vermischt.

Noch heute sind diese Spuren zu sehen. Nur einmal erhalten die Häftlinge im Waldlager Nahrung: 1 Schüssel voll Grütze oder 1 Wurstkonserve. Wie diese Konservendose aufgeteilt wurde, schildert Friedrich Johne als Todesmarschteilnehmer:

„Das Problem war. für viele Halbverhungerte den Inhalt einer Konservendose aufzuteilen. Erst einmal haben wir dafür gesorgt, daß die Blutwurst sauber aus der Büchse herauskommt, und daß alle das sehen konnten. Diese Wurst legten wir auf ein Holzbrett. Dann habe ich mit einem Zwirnsfaden vor den Augen aller die Wurst geteilt. Erst einmal genau in der Mitte, dann habe ich von jedem der beider/Teile wieder 5 Teile gemacht. Und dann habe ich mit dem Taschenmesser von diesen Fünfteln Stücke so groß wie Fingerkuppen geschnitten. Das entsprach der Ration. Dann gingen die Häftlinge an meinem Holzbrett vorbei und jeder bekam so ein Stück.“

Am 29. April 1945 wird der Weitermarsch befohlen. Ab 4.00 Uhr morgens beginnt der Aufbruch gen Norden, Der erste Ort ist Grabow, in dem Station gemacht wird.

Bekanntgeworden ist die Geschichte des Notreviers in Grabow:

In diesem provisorischen Revier, daß aus 19 Scheunen bestand, wurden über 1.000 kranke Häftlinge von den Häftlingsärzten Sotona, Sil, Langer, Schmidt, Loebis, Neumann, Chatschaquridse und mehreren Pflegern, unter ihnen Ignys, Decker, Balastik, Haller, Ollsen, Mei, Hoffmann, Rene Trauffler, Lyp, Lipkat und Gries betreut. Als am 29. April 1945 die Häftlingskolonnen den Ort Grabow verlassen, bleibt dieses Notrevier bestehen. Am 1. Mai liegen hier noch 375 Körperschwache, 44 Tbc-Kranke, 104 Häftlinge mit Darmentzündungen. 196 interne und 84 chirurgische Fälle.

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Dieses Bild zeigt eine der Scheunen

Am 2. Mai erreichen Panzerspähwagen der Roten Armee Grabow.

Sofort herangeholte sowjetische Stabsärzte erklären das Revier zum „Sowjetischen Kriegslazarett“ und sorgen für die Kranken.

Am 14. Mai sind noch immer 446 Kranke dort. Die letzten Schwerkranken werden im Juni 1945 in die Hospitäler der Roten Armee nach Wittstock verlegt. Dennoch müssen 132 Häftlinge auf dem Friedhof in Grabow beerdigt werden.

Ihre Heimat war Frankreich, Belgien, Slowenien, Rumänien, Italien, Slowakei, Polen, Holland, UDSSR und Tschechoslowakei.

Doch nun zurück nach Retzow.

IX. Die Massengräber in Retzow

Im KZ-Nebenlager Retzow sind einige Männer von Juli 1943 bis Juli 1944, viele Frauen und auch Kinder von Juli 1944 bis Mai 1945 verstorben. Der übergroße Teil der toten Frauen und Kinderwurde nach Ravensbrück gebracht und dort eingeäschert. Ein Teil der Frauen und Kinder und alle Männer wurden in Retzow begraben. Die häufigsten Todesursachen bei den Männern waren Erschießungen und Unfälle. Bei den Frauen waren es Mangel an Verpflegung, an sanitären Einrichtungen, Seuchen, Krankheiten, Massenunfälle bei der Arbeit und bei Bombenangriffen sowie Vergiftungen.

Es gab drei Begräbnisstätten: Eine hinter dem Retzower Friedhof. Dort wurden Frauen und Männer in Einzelgräbern und mehreren Massengräbern begraben. Die Zweite befand sich am Ausgang des Retzower Parks nach Mirow. Hier hatte man Frauen in Schutzgräben geworfen, welche für die Wachmannschaften gegen Fliegerbeschuß angelegt waren. Die Dritte war direkt am Tor des Lagers zwischen dem nördlichen Schützenbunker und dem Park. Das war ein Massengrab für Frauen.

Wo die Frauen beerdigt wurden, die bei der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee tot aufgefunden wurden und die, welche noch nach der Befreiung starben, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Die Frau, die im Juli 1945 zuletzt gestorben ist, wurde auf dem Retzower Friedhof beigesetzt.

Die Beerdigungen wurden von den Häftlingen durchgeführt. Wenn man die Bodenverhältnisse und andere Bedingungen berücksichtigt, muß man sagen: Es war für die Häftlinge eine sehr schwere Arbeit. Die Gruben waren sehr flach angelegt, und weil die Toten oft in mehreren Schichten übereinanderlagen, war die Abdeckung sehr dünn. Als die Abdeckung sich gesetzt und zum Teil eingeschwemmt war, ist es in den folgenden Jahren des öfteren vorgekommen, daß Knochen Von Tieren ausgeschart wurden.

1948 bekam deswegen der damalige Schöffe von Retzow, Herr Peter Geelen den Auftrag, diesen Mißstand zu beseitigen. Zur selben Zeit war eine französische Delegation angemeldet, die Überreste französischer Frauen identifizieren wollte, um sie in ihre Heimat zu bringen. Dieser Delegation gehörte ein französischer Offizier an, dessen Frau in Retzow verstorben war.

Im Frühsommer 1948 öffnete Herr Geelen mit einer Hilfsperson das Grab am Haupteingang des KZ und ein Massengrab hinter dem Gemeindefriedhof, auf dem Bild hinter dem Zaun, im Vordergrund eingeebnete Fliegergräber.

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Es wurden insgesamt 60 Leichen geborgen. 30 wurden von der Delegation aus Frankreich als Angehörige ihrer Nation bezeichnet und nach Frankreich überführt.

30 weitere Leichen wurden in die Gruft einer Freifrau von Hammerstein auf dem alten Friedhöf von Retzow geworfen und die Gruft geschlossen.

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1950 wurde, ein Herr Krull vom Landessekretariat der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) Mecklenburg von seiner Dienststelle beauftragt, das immer noch bestehende Problem der Massengräber zu klären. Vor dem hatte der Mitarbeiter des Landessekretariats der VVN Herr Bohla, in der Zeit vom 23.06. bis 30.06.1950 die Örtlichkeiten besichtigt und wahrscheinlich die Aufträge für die Ausgrabungen erwirkt.

An den Ausgrabungen waren Arbeitskräfte der Gemeinde Retzow und der Schiffswerft Rechlin beteiligt. Sie fingen am 21.07. hinter dem Gemeindefriedhof an. Dort wurden 12 Einzelgräber geöffnet.

Kapitel-Todesmarsch_Bild-8.jpg Ein Massengrab in Retzow, wahrscheinlich das oben beschriebene. (IV/5)

Anschließend wurde die Gruft der Freifrau von Hammerstein geöffnet und die 1948 dort reingelegten 30 Leichen wieder geborgen. Dann konzentrierten sich die Arbeiten tagelang am Ausgang des Parkes nach Mirow. Dort wurden 2 Einzelgräber und 13 Massengräber mit insgesamt 101 Frauen- und Kinderleichen gefunden.

Die Belegstärke schwankte zwischen 6 und 27 Leichen. Am 27.07. wurden dann bei weiteren Grabungen hinter dem Gemeindefriedhof noch 16 Massengräber geöffnet und die Leichen geborgen. Diese Gräber waren nur zwischen 40 und 70 cm tief.

Insgesamt wurden am 31.07.1950 die Überreste von 221 toten Männern, Frauen und Kindern eingesargt.

Geborgen wurden 101 Leichen am Parkausgang nach Mirow, 90 am Gemeindefriedhof und 30 aus der Gruft auf dem alten Friedhof.

Aus einem Bericht der Abteilung K/Kommissariat C (Mordkommission) des Präsidiums der Volkspolizei Schwerin vom 03.08.1950 geht hervor, daß die Opfer verhungert, erschlagen, zum Teil wahrscheinlich erschossen und vergiftet wurden.

Zu den Retzower Leichen kamen 3, die in Sietow beigesetzt waren. Es waren Mitglieder eines Arbeitskommandos des KZ-Retzow, welche dort eingesetzt waren. Die Toten wurden in 29 Särgen am 3. August 1950 mit Lastkraftwagen nach Schwerin gefahren, im dortigen Krematorium vom 3.bis 5. August eingeäschert und am 6. August nach Waren überführt.

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In Anwesenheit von Vertretern der Landesreglerung, der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) sowie der Parteien und Organisationen fand am 7. August auf dem „Platz der Jungen Pioniere“ – dem heutigen Turnplatz – eine Gedenkveranstaltung statt. Die Gedenkrede hielt der Verwaltungsleiter des Kreiskrankenhauses, Herr Gerhard Peter in seiner Eigenschaft als Mitglied der Volkskammer der DDR und im Auftrage des Kreisvorstandes der Nationalen Front sowie des Demokratischen Blocks.

Auch die Mitglieder der VVN, die Kameraden Bülow, Apel und Detloff übermittelten die Mahnung der Toten an die Lebenden, sich unbeirrbar für den Aufbau eines demokratischen Vaterlandes und für die.

Sicherung des Friedens einzusetzen.

Dann zog der Trauerzug zur Bestattungsstätte am Kietz. Andachtsworte der jüdischen, evangelischen und katholischen Geistlichen begleiteten die Beisetzung der 224 KZ-Opfer aus Retzow/Rechlin.

Einer der Versuchspiloten von Rechlin schließt seine romanhaften Erinnerungen mit den Worten:

„Der Wind, der stetige Wind von der Müritz, wehte nur noch über Ruinen und Leichen“

Eine französische ehemalige Insassin des Frauen-KZ Ravensbrück und des KZ-Nebenlagers Retzow endet in ihrem Buch „LES MANNEQUINS NUS“, in der deutschen Übersetzung „Die nackten Puppen“, mit den Worten:

„Rechlin – Grab meiner Kameradinnen – Ich werde niemals diesen Namen hören können, ohne vor Schrecken zu zittern“

Anlage

Initiativen finden Unterstützung

Der Kreisverband „Bund der Antifaschisten“ Waren/Röbel e.V. bemüht sich seit längerem, auf dem Gelände des ehemaligen Nebenlagers Retzow eine neukonzipierte Gedenkstätte einzurichten.

Der heutige Gedenkstein im Eingangsbereich des Lagers kann als Erinnerungszeichen gelesen werden, jedoch nur von denjenigen, die die Bedeutung der Zeichen aus dern politisch – historischen Kontext kennen. Unsichtbar bleibt jedoch für alle das Ausmaß des Lagers, denn die noch vorhandenen Fundamentreste der Häftlings- und Wirtschaftsbaracken sind zum größten Teil überwuchert. Zusätzlich wird das Gelände zum Teil privätwirtschaftlich genutzt, und bauliche Überreste des Lagers sind überbaut.

In Zusammenarbeit mit der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung brandenburgische Gedenkstätten, des „Bundes der Antifaschisten“ Waren/Röbel e.V., der Projektgruppe „Gedenkstättenarbeit Mecklenburg-Vorpommern“, dem Landratsamt Waren und der Gemeinde Rechlin konnten bis zum Sommer 1998 Konzeptionen für die Neugestaltung des ehemaligen Lagerbereichs erarbeitet werden. Der Diskussionsprozeß dazu ist bisher nicht abgeschlossen.

Die Skizze Verdeutlicht eine mögliche Variante der Gestaltung.

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Der Kreisverband „Bund der Antifaschisten“ Waren/Röbel e. V. hat 1996/97 die Landesregierung von Meckl./Vorp. und die im Landtag vertretenen Parteien, SPD-PDS-CDU, über seine Initiativen zur Erforschung der Geschichte der Erprobungsstelle Rechlin der Deutschen Luftwaffe und des Nebenlagers des KZ Ravensbrück in Retzow/Rechlin in Kenntnis gesetzt. Diese Informationen waren verbunden mit Vorschlägen zur Umgestaltung der jetzigen kleinen Gedenkstätte am Standort des ehemaligen KZ-Retzow.

Dem Kultusministerium sowie den Vorsitzenden der Fraktionen wurde die 1. Auflage der erarbeiteten Dokumentation übergeben. Der Kreisverband „Bund der Antifaschisten“ Waren/Röbel e.V. bat besonders um Unterstützung bei der Realisierung des Projektes zur Umgestaltung der Gedenkstätte.

Die Fraktionsvorsitzenden der Parteien haben sich im Namen ihrer Mitglieder für die Unterstützung ausgesprochen.

Das kommt in ihren Antwortschreiben zum Ausdruck, die wir hier auszugsweise wiedergeben:Fraktionsvorsitzender der SPD – Dr. Harald Ringstorff

Lassen Sie mich Ihnen zunächst meine Anerkennung für Ihr Engagement aussprechen.

Sie leisten eine für die Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus bedeutsame Arbeit. Bezogen auf das Projekt einer KZ-Gedenkstätte Retzow/Rechlin kann ich Ihnen die Unterstützung der SPD-Fraktion im Landtag zusichern.

Fraktionsvorsitzende der PDS – Caterina Muth

Selbstverständlich besteht überhaupt kein Zweifel, daß wir Ihr Anliegen, die Geschichte des ehemaligen Nebenlagers des KZ-Ravensbrück in Retzow weiter zu erforschen und auf diesem Gelände eine Gedenkstätte zu errichten, vollauf gutheißen und bei Bedarf mit parlamentarischen Mitteln unterstützen.

Kulturpolitische Sprecherin der Fraktion der CDU – Steffie Schnoor

Die CDU-Fraktion wird sich in den entsprechenden Gremien um eine Unterstützung des Vorhabens zur Errichtung einer Gedenkstätte Retzow/Retzow bemühen. Ich begrüße das außerordentlich Engagement Ihrerseits und Ihrer Mitstreiter, um das Andenken an die Toten aus den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten zu bewahren.

Die Gemeindeverwaltung Rechlin unterstützte alle Initiativen von Bürgern, Institutionen und Vereinen, um mit der Gestaltung der Gedenkstätte zu beginnen.

Zum erstenmal fand ein internationales Workcamp vom 2. – 15. August 1998 statt.

Frau Angelika Meyer, Jahrgang 1967 und Diplom-Politologin, betreute das Workcamp als freie Mitarbeiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten.

Sie schrieb für diese 2. Auflage der Dokumentation Rechlin:

„Seit vielen Jahren unterstützen gemeinnützige Organisationen, wie die ,Vereinigung junger Freiwilliger“ (VjF), „Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste“ oder der „Service Civil international“ die Arbeit der Gedenkstätten, die an die Geschichte der Nationalsozialistischen Gewaltverbrechen erinnern. Sie tragen durch die Organisierung von Arbeitsgruppen, sog. Workcamps, zum Erhalt dieser bei. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus der ganzen Welt und arbeiten zumeist zwei Wochen unentgeltlich an einem Projekt.

Über die „VdJ“ und die Gedenkstätte Ravensbrück konnte im August 1998 ein solches Workcamp stattfinden.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen aus Japan, Frankreich, Spanien, Belgien, Italien, Kanada, Östereich, Deutschland, der Schweiz und Finnland – im Alter zwischen 18 und 29 Jahren.

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Sie entschieden sich bewußt, an einem solchen Ort zu arbeiten. Sie wollten etwas über die NS-Geschichte , über den Umgang der Deutschen mit dem Nationalsozialismus und über heutige Politik in Deutschland lernen, auch durch ihr persönliches Engagement.

Einige individuelle Beweggründe der Teilnahme an dem Camp seien genannt: Eine Teilnehmerin aus Spanien sagte, daß ihr Großvater gegen das Franco-Regime und später in der Roten Armee gegen Deutschland kämpfte. Ihr Interesse galt der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte vor Ort und einer aktiven Erinnerungsarbeit. Eine Teilnehmerin aus Japan hingegen sah das Camp als Chance, generell über den Nationalsozialismus aufgeklärt zu werden, da in Japan die Aufarbeitung der Geschichte des zweiten Weltkrieges in Europa weder in Schulen noch auf den Universitäten stattfindet. Eine französische Teilnehmerin nahm die NS-Geschichte als Rahmen, sich mit Leuten aus den verschiedensten Ländern, über heutige neofaschistische Bewegungen in den jeweiligen Herkunftsländer auszutauschen. Der Teilnehmer aus Kanada erhoffte sich durch die körperliche Arbeit am authentischen Ort – der Spurensuche – einen emotionalen Zugang zur Geschichte des Außenlagers Retzow zu finden. Für ihn war es wichtig, Geschichte „zu spüren“ und sich darüber mit den Leiderfahrungen der Opfer und den Handlungen der Täter auseinandersetzen zu können.

Primär war für alle, die Auseinandersetzung mit der Geschichte vor Ort. Ein anderer Grund, die praktische „körperliche“ Unterstützung für die Gemeinde Rechlin und ein weiterer, Kontakte mit Menschen unterschiedlichster Herkunft zu knüpfen und Freundschaften zu schließen.

Für die Gemeinde Rechlin, die neben der Gedenkstätte Ravensbrück das Camp sowohl finanziell als auch organisatorisch unterstützt hat, bestand hierdurch erstmalig die Möglichkeit, über eine internationale Begegnung mit jüngeren Leuten, die Geschichte des ehemaligen KZ zu thematisieren und zur kritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit anzuregen. Die Gruppe wurde von Bürgermeister Dr. Sonnenberg und dem Amtsleiter Herrn Ringguth offiziell im Amt Rechlin begrüßt. Sie standen stets für Fragen und Bedürfnisse der Gruppe zur Verfügung. Herr Baetcke und Herr Roß erklärten auf dem Gelände des Außenlagers die historische Entwicklung der Region und die Zusammenhänge zwischen der E-Stelle und dem KZ-Nebenlager. Als Autoren der einzigen Dokumentation über Rechlin/Retzow, die Geschichte noch aus eigener Erfahrung kennen, war es ihnen möglich, die Opfergeschichte und Täterstrukturen darzustellen.

Ohne diese „Rundumbetreuung“, die kostenlose Bereitstellung der Unterkunft, Bereitstellung von Arbeitsmaterialien, Freizeitgestaltung und Aufklärung über Geschichte, wäre es unmöglich gewesen, ein solches Workcamp durchzuführen.

Das Workcamp hatte zum Ziel, auf dem Gelände des ehemaligen KZ einen provisorischen „Gedenkpfad“ zu errichten. Wer heute den Gedenkort aufsucht, stößt auf die Ergebnisse der Arbeit.

Die 14-tägige Arbeit führte zu dem Ergebnis, daß sich im Eingangsbereich ein provisorisches Schild über die Topographie des Lagers und eine dreisprachige (deutsch, englisch, französisch) Beschreibung des Ortes befindet. Behutsam konnten Überwucherungen an den Fundamentresten der Häftlings- und Wirtschaftsbaracken entfernt werden.

Mit Unterstützung Rechliner ABM-Kräften war es möglich, einen „Gedenkpfad“ anzulegen. Dadurch ist es den Besuchern schon jetzt möglich, die Struktur des Lagers zu erkennen. Ebenso stellte die Gruppe ein Informationsschild an den ehemaligen Massengräbern auf, um der Toten zu gedenken. Anlage_Bild-3.jpg

Aufräumungsarbeiten auf dem Gelände

Am intensivsten jedoch nahm die Gruppe das Gespräch mit der 90-jährigen Johanna Krause aus Dresden, Überlebende des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, auf.

Johanna Krause erzählte vorOrt, im Austausch mit Fragen der Workcampteilnehmer, von ihrer vierwöchigen Inhaftierung im Außenlager Retzow. Zusammen besuchten sie Ravensbrück.

Die Gruppe verabschiedete sich von Frau Krause mit einem gemeinsam verfaßten Brief als Ausdruck des intensiven Zusammenseins.

Jasmin, aus der Schweiz, schreibt darin:

„Liebe Johanna. Ich bin tief beeindruckt von ihren Schilderungen. Ich bewundere sie sehr, weil sie trotz ihrer schweren Lebensgeschichte so viel Lebensenergie und Kraft behalten haben. Sie haben mir Mut und Motivation gegeben, gegen Rassismus zu kämpfen (…).“

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Frau Johanna Krause mit Workcampteilnehmern auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Nebenlagers RetzowMit der Arbeit des Workcamps ist der Grundstein für die künftige Arbeit gelegt. Ein authentischer Ort nationalsozialistischer Verfo!gung rückt nach fünfzig Jahren wieder ins Bewußtsein zurück.

Zum Schluß ein Zitat aus einem Brief, den eine belgische Teilnehmerin im Oktober 1998 an die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück schrieb:

„Diese zwei Wochen in Rechlin halfen uns die Vergangenheit zu verstehen. Jeder sollte soviel wie möglich über die Vergangenheit wissen, um diese Fehler in der Gegenwart und in der Zukunft zu verhindern.“

Mit dieser Dokumentation will der „Bund der Antifaschisten“ Waren/Röbel dazu beitragen, Regionalgeschichte aufzuarbeiten und an die Menschen heranzutragen.

Die Darstellung der Entwicklung der E-Stelle Rechlin mit dem KZ-Nebenlager Retzow ist wichtig, war sie doch ein Hauptkettenglied im System der militärischen Aufrüstung Deutschlands im nationalsozialistischem Reich im allgemeinen und in der Luftwaffe im besonderen. Zweifellos sind in der E-Stelle Rechlin viele Erprobungen durchgeführt worden, die auch dem zivilen Sektor zugute kamen. So zum Beispiel den treibstoffsparenden Motor oder die ständige Verbesserung der Fahrzeugreifen, wie sie heute in Europa produziert werden. Aber insgesamt diente das gesamte Geschehen der Vorbereitung und Durchführung eines Krieges. Die Energie und das große Wissen vieler Wissenschaftler und Ingenieure, ja aller Beschäftigten wurde zur Vernichtung von Menschen und Material ausgenutzt. Die Arbeit war vielseitig und interessant.

Wesentliche Details waren bis dato unbekannt, viele Geheimnisse sind noch nicht preisgegeben. Die Bürger aus der Region Rechlin und anderen Gebieten des Landkreises Müritz übermittelten den Autoren freimütig ihre Kenntnisse, zeigten uns die „Stätten des Geschehens“ und halfen bei der Rekonstruktion der Liegenschaften der Erprobungsstelle. Viele halfen mit Bildern und Zeichnungen, stand uns doch authentisches Fotomaterial nicht in jedem Fall zur Verfügung. Die Niederschrift zum KZ-Nebenlager Retzow erstellte der Mitautor der Dokumentation, Heinrich Roß. Mit Hilfe vieler Retzower Frauen und Männer, von Frau Hoffmann und Frau Herzog als Mitarbeiterinnen der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück sowie Fräulein Juliane Siewert konnte Licht in das Dunkel dieser grauenvollen Stätte gebracht werden.

Der „Bund der Antifaschisten“ Waren/Röbel e. V. und die Autoren bedanken sich vor allem bei:

Heinz Breuer, Waren; Helga und Horst Fenner, Boek; Hans-Jürgen Gerlach, Groß Dratow; Kurt Havemann, Retzow; Margarete Holtnagel, Mirow; Heiner Ihlenfeldt, Qualzow; Ingolf Machnicki, Ludorf; Erwin Mahnke, Waren; Gisela Moll, Waren; Ehrenfried Seyer, Rechlin; Gisela und Arno Weinert, Boek; Heini Bruhn aus Wesenberg; Christel Trouve und Angelika Meyer aus Berlin; Klaus Henning aus Röbel; dem Umweltamt und der Unteren Denkmalpflegebehörde des Landratsamtes Waren; der Stadtverwaltung Mirow und seinem Standesamt; dem „UtM“ Waren, ErnstiAlban-Straße 6 sowie der Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e. V.. Besonders danken wir Frau Dr. Sigrid Jacobeit, Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.

Zu Dank sind wir dem Leiter der Bibliothek der Holocaust-Gedenkstätte „YAD VASHEM“ in Jerusalem und dem Director des „Institute of Contemporary History and Wiener Library Limited“ in London, verpflichtet.

Der Verwaltungsleiter des Amtes Rechlin, Herr Wolf-Dieter Ringguth und der Bürgermeister der Gemeinde Rechlin, Herr Dr. Dietrich Sonnenberg unterstützten die Arbeit der „Arbeitsgruppe Geschichte“ des Amtes nach besten Kräften.

Quellenangaben:

1. „Demokrat“, Tageszeitung der CDU Mecklenburgs vom 26.7. 1950

2. Protokoll des VP-Präsidiums Schwerin, Abt. K - Mordkommission - vom 3.8.1950

3. Eine Dokumentation der ,Müritz-Zeitung“, Jahrgang 1961

4. „Geschichte des Luftkrieges“, Groehler, 1981

5. Rechliner Schiffbauer - einst und jetzt, Teil 1

6. „Flieger-Revue“ Monatszeitschrift Heft 6 und 7/83

7. „Die Deutsche Luftrüstung 1933 - 1945“, in 4 Bänden, 1993

8. „Focus“ Wochenzeitschrift, Heft 17/95

9. „Die Katakombe“, Bechtermünz-Verlag 1997

10. Sterberegister des Standesamtes Mirow

11. Das Munitios- und Sprengstoffwerk in Malchow (Meckl.) 1938 - 1945

12. „Mahnung und Verpflichtung“, Heinz Barche

13. Material der Gemeinde Groß Plasten

14. Widerstand und Opposition gegen das NS- Regime aus den Kirchen in Mecklenburg 1933- 1945. Karl- Heinz Jahnke, Verlag Jugend und Geschichte, Rostock.Zum Abschnitt: Das Barackenlager zu Retzow

1. RA Bd. 26 (396), S.4 Bericht Zilina Lea Bronner, Slowakei oJ.

2. RA Bd. 18, Bericht 74 Bericht Ilse Hunger, Leipzig, 13.8. 1947

3. RA Bd. 32 (586), S.2 Bericht Maria Moulan, St. Vincent, 30. 12. 1958

4. Alida Castaing, (588), S.83, cours de Belgique

5. Maguerite Billard, Frankreich

6. RA Bericht 979, Jaques Barette

7. Hedwig Müller, Schwester in der Sanitätsbaracke RavensbrückFotoaufnahmen:

1. Luftaufnahmen der Bombardierung der E-Stelle Rechlin: Uwe Kasan, Rechlin

2. Workcamp in Retzow: Frau Angelika Mayer.